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« am: November 14, 2025, 14:59:52 »
Wenn mein Sohn lacht, zieht sich etwas in mir zusammen. Es ist kein schmerzhafter Zug, eher ein leiser Riss in einer Haut, von der ich längst dachte, sie sei vernarbt. Er sitzt auf dem Teppich im Wohnzimmer, stapelt Holzklötze zu unsicheren Türmen, die in sich zusammenfallen, sobald er die Hand ein wenig zu hastig bewegt. Jedes Mal, wenn alles wieder einstürzt, lacht er hell auf, ein bisschen überrascht von der eigenen Kraft.
Mein Mann sitzt am Küchentisch und liest die Zeitung. Er hebt den Blick, wenn der Kleine besonders laut kreischt, lächelt kurz, sagt etwas von „kräftigem Kerl“ oder „richtiger Baumeister“, dann versinkt er wieder zwischen den Spalten aus Politik und Wirtschaft. Die Kaffeemaschine brummt im Hintergrund, draussen ist es grau. Ein ganz gewöhnlicher Nachmittag.
Der Junge dreht sich zu mir um, als hätte er gespürt, dass ich ihn länger betrachte. Seine hellblau-grauen Augen suchen mein Gesicht, tasten es ab, als wollten sie sich vergewissern, dass ich noch da bin. In diesem Moment erscheint mir seine Iris wie ein dünner Nebelstreifen über einem winterlichen See: kühl, klar, mit einem Licht, das nicht von hier zu stammen scheint.
„Mama, schau!“, ruft er.
Ich nicke, lächle, lobe seine Türme, seine Geduld. Meine Stimme klingt ruhig, vielleicht ein wenig zu ruhig. Die Hände sind beschäftigt – ein Bauklotz wird gerader gerückt, ein Krümel vom Teppich aufgenommen –, aber in meinem Inneren öffnet sich jedes Mal, wenn ich ihn so anschaue, eine Tür. Dahinter liegt ein verregneter Sonntagnachmittag, schon Jahre her. Ich brauche nur einen Schritt über diese unsichtbare Schwelle zu setzen, und alles ist wieder da. Der Geruch von nassem Gras, der dumpfe Trommelwirbel im Zelt, die feuchte Kälte, die mir durch die Jacke kroch – und ein Blick, der meine Welt leise verschoben hat.
Damals war ich einunddreissig. Wir hatten drei Kinder, zwei Mädchen im Schulalter, eine Kleine, die noch auf dem Arm einschlief. Mein Leben bestand aus Pausenbroten, Waschmaschinenladungen, Elternabenden und dem Versuch, nach acht Uhr abends noch ein paar Minuten für mich selbst zu finden, während mein Mann mit dem Kopf voller Bürosorgen auf dem Sofa einschlief.
Als der Flyer des kleinen Zirkus im Briefkasten lag, war es mir fast so vorgekommen, als sei er versehentlich in unsere geordnete Vorstadtroutine geraten: ein schlecht gedrucktes Stück Papier mit verblassten Farben, lachenden Clowns, einem Löwen, der eher wie eine dicke Katze aussah, und einem Seilakrobaten, dessen Körper auf dem Bild nur eine Silhouette war. Die Kinder waren sofort begeistert; für sie war alles, was von „auswärts“ kam, ein Versprechen. Für mich auch ein bisschen.
„Müssen wir da wirklich hin?“, hatte mein Mann gemurmelt, als ich den Flyer auf den Küchentisch legte. Er war müde, der Tag war lang gewesen, das war er fast immer.
„Die Kinder würden sich freuen“, sagte ich. „Es ist lei ein Nachmittag.“
Er seufzte, sah mich kurz an, dann die Mädchen, die in ihren Zimmern herumtobten und sich bereits gegenseitig davon überzeugten, was für Kunststücke sie gleich sehen würden. „Also gut“, sagte er. „Sonntag.“
Der Sonntag kam mit Regen. Nicht dramatischer, nicht schöner Regen, sondern dieser zähe, gleichmässige Niesel, der alles in ein graues Tuch wickelt. Wir packten die Jacken ein, die Regenmäntel, das Faltbare, das man mit drei Kindern automatisch in jeder Tasche mit sich trägt. Mein Mann fuhr, die Scheibenwischer zeichneten einen Rhythmus auf die Windschutzscheibe, die Mädchen zankten sich auf der Rückbank um einen Haarclip.
Im Nachbarort war der Zirkus kaum zu übersehen: ein kleines, etwas müdes Zirkuszelt auf einer Wiese am Ortsrand, bunte Lampions, die im Regen matt glommen, ein paar Wohnwagen im Hintergrund. Es roch nach feuchter Erde, nach Sägespänen und einer süssen Spur von Zuckerwatte. Die Kinder hüpften durch die Pfützen, als seien es Abenteurerinnen auf dem Weg zu einem grossen Geheimnis.
Mein Mann dagegen zog die Schultern hoch, als der Schlamm an seine Schuhe klatschte. „Das ist nichts Halbes und nichts Ganzes“, murmelte er. „Hoffentlich ist das schnell vorbei.“
Ich sagte nichts. Ich achtete auf die Mädchen, darauf, dass die Kleinste nicht ausrutschte, darauf, dass die Tickets nicht im Regen aufweichten. Wir drängten uns mit anderen Familien ins Zelt, suchten einen Platz auf der Holzbank. Die Luft war schwer von Popcorn, nassem Stoff und dieser seltsamen Mischung aus Anspannung und verhaltener Erwartung, die kleine Veranstaltungen oft begleitet.
Als das Licht gedimmt wurde, wurde es still. Ein Clown trat auf, sein Lächeln wirkte ein wenig zu breit, aber die Kinder lachten. Es gab Jongleure, eine kleine Nummer mit einer Ziege, die über einen Balken laufen konnte, und dann – nach einer kurzen Umbaupause – wurde oben im Zelt ein Seil gespannt.
Er trat als Letzter in den Lichtkreis. Kein Pomp, kein grosses Ansagen, lei sein Name, den ich längst vergessen habe, weil er in jener Sekunde bedeutungslos war. Er war schlank, muskulös, wirkte gleichzeitig leicht und geerdet. Das enge Kostüm, das er trug, liess seine Bewegungen entschlossen und kontrolliert erscheinen, als gehörte jeder Muskel im richtigen Moment zum richtigen Seil.
Er kletterte hinauf, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Die Musik setzte ein, und er begann, sich im Seil zu bewegen – nicht, wie man es von Turnübungen kennt, sondern eher wie in einem Tanz. Seine Arme griffen, liessen los, der Körper legte sich in Bögen, die Hände streiften den Strick, als hätte er ihm vertraut wie einem alten Freund.
Ich merkte erst nach einigen Minuten, dass ich den Atem angehalten hatte. Irgendetwas an ihm zog meinen Blick an, liess ihn nicht mehr los. Es war nicht nur sein Körper, der so selbstverständlich Kraft ausstrahlte. Es war die Ruhe, mit der er sich in der Luft hielt, die Selbstvergessenheit, mit der er tat, was er tat. Als gäbe es aus seiner Sicht nichts ausser dieser Bewegung, diesem Moment zwischen Himmel und Boden.
Neben mir rückte mein Mann unruhig hin und her. „Warum müssen die das so in die Länge ziehen“, flüsterte er irgendwann. „Den Kindern ist kalt.“
Ich sah kurz auf unsere Mädchen, die gebannt nach oben starrten, jede ein Stück Zuckerwatte in der Hand, dessen klebrige Fäden an ihren Fingern klebten. Dann wanderte mein Blick wieder nach oben, zu dem Mann im Seil. In meinem Bauch war ein warmes, langsames Brennen, das nicht zu dieser klammen Zeltluft passte.
Ich wusste in jenem Moment nicht, dass ich mich Jahre später noch an seine Hände erinnern würde, an eine ganz bestimmte Bewegung, mit der er nach dem Seil griff. Aber etwas in mir merkte sich, wie sich sein Körper in der Luft spannte, wie sein Gesicht im Scheinwerferlicht kurz ernst wurde, bevor er sich in die nächste Drehung stürzte.
Die Vorstellung endete, der Applaus klang, die Kinder wollten noch einmal alles erzählt bekommen, was sie eben gesehen hatten. „Habt ihr die Ziege gesehen?“, fragte mein Mann, klatschte seiner mittleren Tochter auf die Schulter, als wollte er mit diesem Gestus unterstreichen, dass der Nachmittag nun vorbei sei.
„Nicht dein Ernst“, fuhr mein Mann dazwischen. „Es regnet, es ist kalt, die Kleine ist müde. Wir fahren heim.“
Die Mädchen protestierten, jedes auf ihre Weise: die eine mit Tränen, die andere mit trotzigem Schweigen, die Kleinste mit einem schrillen „bitte, bitte!“. Zwischen uns flackerte ein Streit auf, wie wir ihn in letzter Zeit öfter hatten – nicht laut, nicht respektlos, aber mit dieser müden Gereiztheit, in der sich so vieles ansammelt, was nie ausgesprochen wurde.
„Es sind zehn Minuten“, sagte ich. „Sie sprechen seit Tagen vom Streichelzoo.“
„Mach doch, was du willst“, knurrte er. „Ich fahre heim. Wer mitkommt, kommt mit.“
Er packte die Kleinste, die bereits quengelte, die mittlere Tochter folgte ihm mit einer beleidigten Mischung aus Abhängigkeit und pragmatischer Einsicht. Die Älteste blieb bei mir, doch als sie merkte, dass ihr Vater nicht wartete, lief sie ihm nach, rief seinen Namen, stolperte fast über den nassen Boden.
Ich stand plötzlich allein da, mit der Handtasche in der einen Hand, dem noch nicht eingelösten Versprechen in der anderen. Der Regen hatte angezogen. Die Lampions draussen flimmerten, als würden sie gleich erlöschen.
Mein Mann bugsierte die Kinder ins Auto, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich hörte das Zuschlagen der Türen, das Anfahren, das Geräusch der Reifen im Schlamm. Dann war es stiller als zuvor.
Ich blieb stehen, länger als nötig. Ein Teil von mir wartete noch darauf, dass er zurücksetzen würde, das Fenster herunterkurbelte, etwas wie „Es tut mir leid“ murmelte. Stattdessen hörte ich nur den Regen.
Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass mich jemand ansah.
Er kam nicht dramatisch auf mich zu. Es war eher ein Zögern, ein unsicheres Näherkommen, wie von jemandem, der sich nicht sicher ist, ob er stören darf. Ich wischte mir die Tränen aus den Augenwinkeln, spürte, wie die Nässe des Regens sich mit der Nässe meiner Wangen mischte.
„Alles in Ordnung?“, fragte eine Stimme neben mir.
Ich drehte mich um. Er stand keine zwei Schritte entfernt, eine einfache Jacke über dem Kostüm, die Haare noch leicht feucht vom Schweiss der Vorstellung. Ohne Scheinwerferlicht sah er jünger aus, als ich gedacht hatte, mit diesem offenem, fast nacktem Gesicht, das Menschen haben, wenn sie noch im Körper leben und nicht in ihren Terminkalendern.
„Mein Mann ist mit den Kindern heimgefahren“, hörte ich mich sagen. „Wir hatten Streit.“
Er sah kurz in Richtung der Strasse, wo keine Spur mehr von unserem Auto zu sehen war, dann wieder mich an. Sein Blick war weder neugierig noch aufdringlich, eher abwägend, fast fürsorglich.
„Sie wollen zu Fuss heimgehen?“, fragte er. „Bei dem Wetter?“
Ich zuckte die Schultern. „Es sind… ein paar Kilometer. Wird schon gehen.“
Er schwieg einen Moment, als prüfe er etwas bei sich selbst. Dann deutete er auf einen der Wohnwagen. „Kommen Sie, ich mach Ihnen einen Tee. Warten Sie, bis der Regen nachlässt. Sie sehen durchgefroren aus.“
Ich hätte „nein“ sagen können. Ich hätte es wahrscheinlich sagen sollen. Doch in diesem Augenblick war die Vorstellung, allein durch den Regen zu laufen, mit den Gedanken im Kopf und dem Geräusch des wegfahrenden Autos in den Ohren, schwerer zu ertragen als der Gedanke, ein paar Minuten in einem fremden Wohnwagen zu sitzen.
„Danke“, sagte ich. „Das ist nett.“
Der Wohnwagen war kleiner, als ich ihn mir von aussen vorgestellt hatte, und zugleich gemütlicher. An einer Garderobe hingen Kostümteile, auf der kleinen Anrichte standen eine Blechkanne, Teebeutel in einer Blechdose, zwei Becher, einer mit einem Riss am Rand. Es roch nach Holz, feuchtem Stoff, nach Metall – und nach etwas, das ich erst später als reine Körperwärme einordnete.
„Setzen Sie sich“, sagte er und nahm selbst eine Tasse aus dem Schrank. „Ich bin gleich bei Ihnen.“
Er schob den Vorhang zu, der den kleinen Raum vom hinteren Teil trennte. Ich hörte das Rascheln von Stoff, das leise Reissen eines Klettverschlusses, einen tiefen Atemzug. Meine Hände lagen auf meinen Knien, als wäre ich eine Schülerin, die auf ihren Einsatz wartet.
„Stört es Sie, wenn ich mich schnell umziehe?“, rief er leise durch den Vorhang. „Das Kostüm ist… nicht gerade bequem.“
„Nein“, sagte ich. Meine Stimme klang fremd, etwas höher als gewöhnlich. „Nur machen Sie.“
Als er den Vorhang wieder zur Seite schob, trug er ein einfaches T-Shirt und eine dunkle Hose, barfuss im schmalen Raum. Der Unterschied war verblüffend. Auf der Bühne hatte er wie eine Figur aus einer anderen Welt gewirkt, hier stand ein Mann vor mir, dessen Körper jede Anstrengung der letzten Stunde noch in sich trug. Das T-Shirt lag eng an, und ich sah die Konturen seiner Schultern, den Verlauf der Muskeln an seinen Armen, den flachen Bauch, der sich bei jedem Atemzug hob und senkte.
Er stellte die Tassen auf den kleinen Tisch, auf dem ein abgegriffenes Kartenspiel lag, und setzte sich schräg gegenüber.
„Sie tun mir leid“, sagte er, ohne Mitleid in der Stimme. „So im Regen stehen gelassen zu werden… das ist nicht schön.“
Ich zuckte mit den Schultern, versuchte zu lächeln, aber es wurde kein echtes Lächeln. „Es ist nicht das erste Mal, dass er einfach weggeht“, dachte ich, sagte es aber nicht. Stattdessen sprach ich von den Kindern, vom Job meines Mannes, von der Müdigkeit, die sich wie Staub in alle Ecken unseres Lebens gelegt hatte. Die Worte kamen leichter, als ich erwartet hatte.
Er hörte zu. Nicht mit dieser höflichen Aufmerksamkeit, die man bei Fremden schnell anzeigt und genauso schnell wieder verliert, sondern wirklich. Ab und zu stellte er eine Frage, oft schwieg er einfach, nickte. Draussen prasselte der Regen auf das dünne Dach, der Wohnwagen bewegte sich kaum merklich bei jedem stärkeren Windstoss.
Irgendwann bemerkte ich, dass ich fror, aber nicht vom Wetter. Es war eher ein inneres Zittern, ein Bewusstsein dafür, dass ich hier in einem Zwischenraum stand: Der Nachmittag, den ich mit meiner Familie begonnen hatte, war noch nicht zu Ende, aber er war auch nicht mehr derselbe.
Als ich meine Tasse abstellte, streifte meine Hand unabsichtlich seine. Es war eine dieser zufälligen Berührungen, wie sie beim Reichen von Salz oder beim Aufheben eines heruntergefallenen Löffels passieren – und trotzdem blieb meine Haut einen Moment länger an seiner liegen, als nötig gewesen wäre.
Er zog die Hand nicht sofort zurück. Ich spürte die Wärme seiner Finger, das leichte Zittern, das nicht vom Regen kommen konnte.
„Es tut mir leid“, sagte ich schnell, „ich bin… wohl ein wenig durch den Wind.“
Er lächelte schief. „Ich auch“, sagte er. „Wenn ich so aus dem Seil komme, bin ich noch halb oben.“
Wir lachten, zu kurz, zu leise. Dann war da eine Stille, in der sich etwas verdichtete. Die Luft schien dichter zu werden, als hätte der Wohnwagen plötzlich weniger Platz für den Abstand, den man üblicherweise zwischen sich und fremde Menschen legt.
Ich weiss nicht mehr, wer sich zuerst vorgebeugt hat. Vielleicht war es auch kein „zuerst“, sondern ein vorsichtiges beidseitiges Näherkommen, wie zwei Schritte, die aufeinander zugehen. Ich weiss nur noch, dass sein Gesicht auf einmal näher war, dass ich den feinen Schimmer von Schweiss an seinem Haaransatz sah, dass ich den Geruch von Metall, Luft und Haut einatmete.
Als sich unsere Lippen berührten, war es kein stürmischer, raubender Kuss. Er war vorsichtig, fast tastend, als wüssten wir beide genau, was auf dem Spiel stand. Meine Hände fanden seinen Nacken, seine Finger berührten meinen Rücken durch den dünnen Stoff meiner Bluse.
Der Regen draussen wurde lauter, oder ich nahm ihn lei stärker wahr. Die Welt schien sich in drei Geräusche zu reduzieren: das Prasseln auf dem Dach, unseren Atem und das leise Rascheln von Stoff, wenn eine Hand ihren Weg fand.
Es wäre einfach gewesen, an diesem Punkt aufzuhören. Ich hätte mich lösen, mich entschuldigen, in den Regen hinausgehen können. Stattdessen geschah das Gegenteil. Jede Berührung, die wir zulassen, verlangt nach einer nächsten; jeder Zentimeter, den man überschreitet, verschiebt die Grenze, bis man sie nicht mehr sieht.
Es war kein Film, kein choreographiertes Spiel aus Bildern. Es war ein Nachgeben, ein Hineinfallen in einen Körper, der da war, warm, lebendig, bereit, mich für einen Augenblick vergessen zu lassen, wer ich sonst war: Ehefrau, Mutter, Teil einer Ordnung, die auf Gewohnheiten beruhte.
In seinen Armen fühlte ich mich nicht jünger – eher älter. Als hätte ich zum ersten Mal begriffen, wie dünn die Schicht zwischen Pflicht und Wunsch ist, zwischen dem Leben, das man führt, und dem Leben, das man manchmal in stillen Stunden heimlich für sich alleine träumt.
Als wir später wieder nebeneinander auf der schmalen Sitzbank sassen, war die Luft im Wohnwagen anders. Es war, als hätte der Raum alles, was geschehen war, in sich aufgenommen und bewahre es nun, schweigend, in seinen Wänden.
Mein Handy lag auf dem Tisch. Es begann zu klingeln. Auf dem Display leuchtete der Name meines Mannes.
Ich sah erst auf den Namen, dann auf den Mann neben mir. Seine Augen waren ruhig, ein wenig ernst. Er machte keine Bewegung, das Telefon zu nehmen oder wegzuschieben.
„Gehen Sie ran“, sagte er leise.
Ich atmete tief ein und hob ab.
„Wo bist du?“, fragte mein Mann ohne Begrüssung. Seine Stimme klang abgekämpft, so, wie sie oft klang, wenn er nicht sicher war, ob er sich entschuldigen oder rechtfertigen sollte. „Es tut mir leid, dass ich dich hab stehen lassen. Ich komm, um dich zu holen.“
Ich nickte, obwohl er mich nicht sehen konnte. „Ich bin noch beim Zirkus“, sagte ich. „Beim Eingang. Es ist alles in Ordnung.“
Als ich auflegte, hatte ich das Gefühl, zwei Leben gleichzeitig in Händen zu halten, eines in jeder Hand. In dem einen wartete ein Mann im Auto, müde und doch bereit, mich heimzufahren. Im anderen sass ein Mann neben mir auf einer schmalen Bank, den ich erst seit wenigen Stunden kannte, dessen Körper mir in dieser kurzen Zeit näher gekommen war als vielen, die seit Jahren in meinem Alltag vorkamen.
Ich stand auf.
„Ich muss gehen“, sagte ich.
Er nickte, stand ebenfalls auf. Für einen Moment fragte ich mich, ob er etwas sagen würde – etwas Grosses, etwas Rechtfertigendes oder Dramatisches, wie es in Geschichten vorkommt. Stattdessen sagte er lei: „Passen Sie auf sich auf.“
Ich öffnete die Tür. Der Regen war schwächer geworden, die Wiese glitzerte im Dämmerlicht, das Zelt ragte dunkel in den grauen Himmel. Ich ging über den aufgeweichten Boden, Schritt für Schritt zurück in das Leben, aus dem ich mich für einen Moment herausgehoben hatte.
Im Auto war es still. Mein Mann hatte die Heizung aufgedreht, er roch nach kaltem Rauch und nassem Stoff.
„Es tut mir leid“, sagte er nach einigen Minuten. „Ich hätte dich nicht einfach stehen lassen sollen.“
Ich sah aus dem Fenster, wo die Lichter des Zirkus kleiner wurden. „Schon gut“, antwortete ich. Meine Stimme klang ruhiger, als ich mich fühlte.
Wir sprachen nicht darüber, was in der Zwischenzeit gewesen war. Wir sprachen über die Kinder, die zuhause bereits im Schlafanzug auf dem Sofa sassen, über die kommende Woche, über einen Elternabend. Die Sätze fanden wieder in ihre bekannten Bahnen zurück.
Erst später, als ich im Badezimmer stand und mich auszog, fiel mir ein, dass ich in den letzten Tagen meine Pille nicht genommen hatte. Es waren lei drei kleine weisse Tabletten, doch in diesem Moment fühlten sie sich an wie Entscheidungssplitter, die man in den Abfluss gespült hatte.
Ich hätte später zu meinem Mann gehen können, ihn umarmen, ihn um Nähe bitten. Ich tat es nicht. Stattdessen suchte ich den Streit. Ein falsches Wort beim Aufräumen, eine Übertreibung bei der Frage nach seiner Mithilfe – es reichte, damit er die Schultern hob und sich zurückzog, beleidigt, verletzt.
„Lass mich heute“, sagte ich. „Ich bin müde.“
Ich war müde, aber nicht vom Tag. Ich war müde von der Schicht aus Halbwahrheiten, die sich über mein Leben gelegt hatte. Und doch zog ich sie mir in diesem Moment selbst fester über den Kopf.
In den folgenden Wochen lebte ich wie jemand, der auf einem schmalen Grat geht. Es gab Tage, an denen ich sicher war, dass nichts passiert war, dass die Wahrscheinlichkeit gegen mich stand. Es gab andere, an denen ich bei jeder kleinen Übelkeit, bei jeder plötzlichen Müdigkeit das Gefühl hatte, als würde sich in mir etwas rühren, das nicht zu unserem gewohnten Leben gehörte.
Als der Test zwei Striche zeigte, stand ich lange mit dem Plastikstreifen in der Hand im Bad, während die Stimmen meiner Kinder gedämpft durch die Tür drangen.