MotiveDie Markt- und Meinungsforscher haben sich ebenso für die viel spannendere Frage interessiert, warum die Durchschnittsbürger Gruppensex machen oder warum nicht. An der Spitze der Skala der Antworten steht Vereinsamung. Es ist kein Geheimnis, dass man sich auch in der Zweisamkeit unheimlich einsam fühlen kann. Wenn Partner nebeneinander statt miteinander leben und lieben. Noch viel mehr sind aber wohl Scheidungswitwen und -witwer von Vereinsamung bedroht.
Viele überwinden die erlittene Enttäuschung nicht, um eine neue Lebenspartnerschaft anzustreben. Eine solche Scheidungshinterbliebene ist die US-Publizistin Betty Dodson. Sie hat den eigenen Körper als Lustobjekt entdeckt Ihr Buch „Sex For One" ist ein Bestseller nicht nur in Amerika.
Betty Dodson macht ihre Solonummern nicht für sich allein, sondern am liebsten in Gesellschaft. Ihre Bodysex-Gruppen für praktische Masturbationsübungen von Frauen und Männern, die sie in ihrem Buch beschreibt, bilden eine ganz eigene Variante des Gruppensex. Ein kleiner Auszug:
„Da ich Hilfe brauchte, bat ich meine Freundin Laura, mir bei den Gruppen zu helfen. Sie machte sofort begeistert mit. Vier Jahre
lang leiteten Laura und ich die Workshops. Im ersten Jahr hatten wir zwei verschiedene Gruppen. Nach jeder Sitzung reflektierten wir in allen Einzelheiten den Ablauf. Ihre Rückmeldung war für mich sehr wichtig. Jede Gruppe hatte ihren eigenen Charakter.
Einige waren sexuell zurückhaltend und beschränkten sich auf Gespräche, während andere lüstern und sinnlich waren. Manchmal ging es vulgär und laut zu. Doch immer hatten wir Spaß, weil auch Laura und ich solche Clowns waren. Die Teilnehmer drückten ihre Wünsche aus und entwickelten so ihre Lustrituale. Es handelte sich um ganz normale Hausfrauen und Mütter, berufstätige, verheiratete und geschiedene Frauen. Altersmäßig war der Bereich zwischen zwanzig und fünfzig abgedeckt Ab und zu nahm auch eine Großmutter um die Sechzig teil. Die meisten waren heterosexuell. Doch in vielen Gruppen gab es Bisexuelle und Lesbierinnen.
Ich machte immer deutlich, dass ich alle Varianten unterstütze. Wenn man sich auf Selbstliebe konzentriert, verlieren die sexuellen Etikettierungen ihre Bedeutung. Wir waren einfach sexuelle Frauen. Da die meisten Frauen keine bildliche Vorstellung von der Sexualität hatten, konnte eine einzige Demonstration tausend Worte ersetzen, Zuerst stellte ich Masturbation pantomimisch dar, spielte, wie sexuelle Spannung aussah, wie sich ein Körper bei einem sanften oder einem intensiven Orgasmus bewegt. Darauf folgte immer eine komische Nummer über einen Pornostar, der einen hysterischen Orgasmus vortäuscht. Die Hausaufgabe bestand immer in Masturbation. Es standen verschiedene Vibratoren zur Verfügung, die die Frauen mit nach Hause nehmen konnten."
Die Motive für Gruppensex sind vielfältig, aber
besonders geschiedene Frauen geben sich aus
Angst vor dem Alleinsein gerne lustvollen Spielen
mit mehreren Sex-Partnern hin.
IrrgartenDie Befragten für diese Erhebung wurden telefonisch interviewt. Kein Lebensbereich der Menschen ist für Demoskopen schwieriger zu erfassen als das Sexualverhalten. Darüber redet man doch nicht. Nicht umsonst heißt es in fast allen Poesiealben an irgendeiner Stelle: „Genieße und schweige." Um dieses Schweigen zu durchbrechen, ist der Fragebogen ein weitgehend ungeeignetes Mittel. Selbst wenn Diskretion und Anonymität garantiert werden, bleibt doch die unterbewusste Furcht, sich festzulegen. Ein persönliches Gespräch zu dieser Thematik wird meistens nur zu unzureichenden Erkenntnissen führen. Da stehen oftmals Hemmungen wie eine Mauer zwischen Befragten und Interviewern.
Am Telefon wird ungezwungener drauflosgeredet. Auf jeden Fall ist das Eis schneller gebrochen. Dazu ein Beispiel aus den Protokollen dieser Telefonaktion. „Ich hatte sexuelle Defizite", antwortet die 36jährige Innenarchitektin Sabine auf die Zusatzfrage, warum sie schon mal an einer Gruppensexorgie teilgenommen hat. Logisch! Wem nichts fehlt der
will auch nichts haben, Sabine hätte es klarer ausdrücken können mit dem Eingeständnis, dass sie in der körperlichen Liebe unbefriedigt war.
Doch Fremdwörter sind beliebt, weil sie einerseits weniger deutlich sind als die eigene Sprache.
Zum anderen schaffen sie den Eindruck eines gewissen Bildungsstandes. Berufsneugierige, wie es Markt- und Meinungsforscher nun mal sind, haben es nicht leicht. Viel Geschick ist nötig, um den Dingen wirklich auf den Grund zu kommen.
Deshalb fragt unser Interviewer auch nicht zurück, welches im einzelnen die Defizite denn gewesen seien. Da wäre ihm nur ausgewichen worden.
"Wie interessant", sagt er stattdessen. "In welcher Weise sind Ihre Defizite denn durch Gruppensex ausgeglichen worden?" „Überhaupt nicht!" Diese Antwort überrascht den Laien. Den Profi bringt sie nicht aus dem Konzept. Die Aufdeckung sexueller Wünsche und Verhaltensweisen ist immer eine Wanderung durch den Irrgarten der menschlichen Seele. Da kann man sich sehr leicht mal verlaufen. Oder gar nicht erst ans Ziel kommen.
MessalinaDas Telefonat mit Sabine führt schließlich aber doch zu interessanten Erkenntnissen. „Ich habe einen Messalina-Komplex", bricht es schließlich aus ihr hervor. Messalina war die dritte Frau des römischen Kaisers Claudius.
Sie wird sie als Ausgeburt der sexuellen Begierde und der totalen Hemmungslosigkeit dargestellt So lässt sich schließlich rechtfertigen, dass ihr kaiserlicher Ehemann sie zum Tode verurteilte, noch bevor sie ihn mit vergifteten Mahlzeiten umbringen konnte.
Sabine hätte sich wieder klarer ausdrücken können, indem sie gesagt hätte: „Ich bin unstillbar geil!" Das mag sie sich nicht getraut haben, obwohl „geil" ja längst nicht mehr den obszönen Wörtern zugerechnet wird und vulgäre Ausdrucksweisen nach Auffassung vieler Psychologen sogar entkrampfend wirken können. Sabine versteckt sich dagegen hinter einem Vorbild. Sie Ist aus einem Normalverhalten ausgeschert, hat Gruppensex gemacht, will dafür aber keine Verantwortung übernehmen. Messalina hat es schließlich auch getan. Die Kaiserin hat es mit jedem und an jedem Ort getrieben. Dabei soll sie nicht einmal schön gewesen sein, doch als Gattin des Herrschers brauchte sie keinen Liebhaber zu verführen. Es genügte, einen Befehl zu geben.
Einem römischen Geschichtsschreiber der selbst nach so einem Befehl mit allen seinen Kräften Gehorsam geleistet hatte, ist die Überlieferung einer Gruppensexorgie aus dem kaiserlichen Palast zu verdanken. Vierzehn junge Athleten waren dabei hintereinander der Herrscherin zu Diensten gewesen. Messalina sei nach dieser Orgie kaum erschöpft und befriedigt gewesen, singt der römische Geschichtsschreiber ein scheinbares Loblied auf die „Invicta", was „Unbesiegbare" heißt. Solche Hochachtung vor dem Objekt seiner Beschreibung hat der polnische Arzt Marek Kroszewski nicht nötig, wenn er aus dem Kriegsjahr 1917 über eine Gastwirtin aus Lodz berichtet, die nach der Polizeistunde in ihrer Kneipe wahre Massenorgien feierte.
Die mannstolle Frau, so Kroszewski, brachte es in solchen Lustnächten auf bis zu 37 Geschlechtsakte hintereinander. Mit 37
verschiedenen Partnern. Soldaten, die durch langen Fronteinsatz viel sexuellen Nachholbedarf aufgestaut hatten und schnell zum Höhepunkt kamen. Frau Wirtin gelang das auch beim siebenunddreißigsten nicht.
Eine Kuriosität am Rande: Die Gäste dieses Bumslokals durften nur den Unterleib entblößen. Ihre Uniformjacken mussten sie anbehalten. Auch in der Sittenlosigkeit herrschen Sitten. In diesem Fall ging es darum, die Dienstgradabzeichen zu erkennen. In der Reihenfolge war die Rangordnung einzuhalten. Krankhafte Nymphomanie hätte hier wohl die Diagnose geheißen, Um davon geheilt zu werden, kam die Gastwirtin aus Lodz auf den Operationstisch. Ihr wurde die Klitoris abgeschnitten. So geschehen noch im ersten Fünftel unseres Jahrhunderts. Die Zeiten ändern sich. Die Probleme bleiben. Die römische Kaiserin, die polnische Gastwirtin und die deutsche Karrierefrau haben wenige Gemeinsamkeiten, außer ihrem unstillbaren Sexhunger.
Sabine ergeht es ähnlich. Sie ist in ihrem Beruf sehr erfolgreich. An Männern besteht für sie kein Mangel. Praktisch kann sie jeden haben, den sie will. Da greift sie auch hemmungslos zu. Sie kommt dabei nicht zur Befriedigung.
Das hat mehrere Gründe: Sie hat durch ihre beruflichen Erfolge ein Selbstbewusstsein erlangt, das es ihr unmöglich macht, willenloses Lustobjekt zu sein. Ihre Männer fühlen sich bei ihr um die anerzogene, mit den Instinkten auch angeborene Beschützer- und Herrscherrolle gebracht.
Unterschwellige Ängste, dieser Frau nicht gewachsen sein zu können, spielen eine Rolle. Sabine spürt das und weiß das. Sie wird nicht fertig mit dem Eindruck, nicht um ihrer selbst willen geliebt zu werden, sondern wegen ihrer Erfolge, ihres Geldes oder was auch immer. Darum hat sie aufgehört, sich beim Geschlechtsakt auf den Partner zu konzentrieren, sondern allein auf den Akt selbst. Ein Teufelskreis, weil der Partner das spürt und ähnlich reagiert. Sabine bleibt unbefriedigt. In ihrer unaufhaltsamen Jagd nach Befriedigung versucht sie, durch Masse statt Klasse einen Ausweg zu finden.
Bindungs-ÄngsteSabine könnte durch einen Mann umgewandelt werden, der nicht nur den körperlichen Orgasmus bei ihr sucht, sondern auch den seelischen.
Dazu muß so ein Mann nicht alkin umfassende Kenntnis über ihre erogenen Zonen auf der Haut erwerben, sondern auch unter der Haut Vulva und Penis sind ja bekanntlich nur Antenne und Sender in einem für Signale aus dem Inneren.
Diese inneren erogenen Zonen haben die Menschen dem Herz zugeordnet.
Wohl um ein greifbares Körperorgan dafür verantwortlich zu machen. Die Seele lässt sich nicht anfassen. Auch im übertragenen
Sinn nicht ohne weiteres begreifen. Was also hier über Sabines Seele gemutmaßt wird, beruht auf Vermutungen von Psychologen. Die haben mehr als alle anderen Wissenschaftler ein Recht auf Irrtum. Für die Psyche gibt es keine mechanischen oder elektronischen Messgeräte, die exakte Ergebnisse aufzeichnen können. Würde es den Mann wirklich geben, der Sabine aus ihrem Martyrium befreien könnte, würde ihr das vermutlich wenig nützen. Ausgerechnet ihn würde sie kein zweites Mal an sich heranlassen. Sie hätte Angst vor dem Risiko, sich an ihn zu binden.
Die Kontaktfähigkeit der Menschen hat nach Beobachtung von Psychologen in jüngster Zeit stark zugenommen. Barrieren wie unterschiedlicher Bildungsstand und sozialer Rang sind weitgehend beseitigt worden. Man geht leichter aufeinander zu, hemmungsloser miteinander ins Bett, scheut sich auch nicht, das in Gruppen zu tun. In gleichem Maß wie die Kontaktfähigkeit zugenommen hat, ist die Bindungsfähigkeit zurückgegangen. Steigende Scheidungsraten geben dafür ein sichtbares Zeugnis ab. Noch nicht mal in vollem Umfang.
Sabine wird in dieser Statistik nicht mitgerechnet. Sie ist nicht und war nicht verheiratet. Bindungsangst pur. Der Freiraum, in dem Menschen noch allein entscheiden können, wird immer enger. Durch eine niemals abebbende Flut von Gesetzen, die über unsere Gesellschaft hereinbrechen. Der Staat meint es gut mit seinen Bürgern. Er will ihnen Sicherheit schaffen. Damit werden Wünsche geweckt, die bis ins Unterbewusstsein hineinreichen.
ImpulsgeberUnsere Konsumgesellschaft funktioniert, weil es ihr gelingt, die Bedürfnisse der Menschen ständig voranzutreiben. Der Absatz muss angekurbelt werden, um die Produktion hochzuhalten. Und die Produktion muss angekurbelt werden, um die Kaufkraft steigen zu lassen. Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie bitte die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker! Seelenärzte sagen, dass nicht nur die materiellen Bedürfnisse permanent angehoben werden, sondern auch die psychischen Bedürfnisse. Darunter der Wunsch nach mehr sexueller Befriedigung. Die lässt sich nicht frei Haus bestellen.
Es gibt auch keine Dienststelle im Rathaus, die für die Versorgung zuständig ist. Um sein Glück in der Liebe muß sich jeder selbst verdient machen.
Doch kommt ihm die Konsumgesellschaft auch dabei zu Hilfe. Noch nie hat es so umfangreiche Angebote an Impulsgebern für die Liebesleidenschaft gegeben. Das sind nicht allein Kataloge von Spezialversandhäusern, die wirkungsvolle Hilfsmittel in fast unerschöpflicher Zahl anbieten. Das sind auch Beratungsstellen, die bei Krisen in der Partnerschaft hilfreich sein können.
Auch Sauna- und Sexklubs, wo Menschen in der Gruppe ihre geheimen Träume ausleben können, sind ein Produkt unserer Zeit. Im Sozialismus, wo doch angeblich der Mensch im Mittelpunkt stand, hat es so was nur im geheimen gegeben. Sexuelle Zufriedenheit war im Plan nicht vorgesehen. Damit Probleme gar nicht erst unter der Bettdecke hervorkamen, wurde Prüderie verordnet. In der freien Welt darf mit seiner Freizeit jeder tun und lassen, was ihm Spaß macht etwa jedem Dritten macht Gruppensex Spaß. Nach der Statistik. Und weil Statistiken grundsätzlich lügen, können es auch ein paar mehr sein. Oder
ein paar weniger. Vielleicht sogar viele mehr oder viele weniger Es findet in der Privatsphäre statt, in der Intimsphäre, Die soll denn auch privat und intim bleiben. Was Bärbel und Wolfgang und Klaus und Martina und Jürgen und Christine in ihrem intimsten Bereich machen, und wie sie es machen und mit wem und warum - was geht das uns eigentlich an?
So nun viel Spaß zusammen und liebe Grüsse
dr.nett