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Titel: Die wundersame Wandlung einer missratenen Tochter (Teil 31 - 39)
Beitrag von: viper2606 am Mai 22, 2011, 05:08:49 pm
Teil 31

Was Anja nicht ahnen konnte: Schmiedemeister Düring war ein ordentlicher Handwerker, jeden Abend räumte er sein Werkzeug wieder weg, alles hatte seinen festen Platz. Als er nun an diesem Abend wieder Ordnung geschaffen hatte, vermisste er seine kleine Feile. Überall suchte er, konnte sie aber nicht finden. Nach einer Weile gab er auf, schloss die Schmiede zu und machte Feierabend, seine Frau wartete schon mit dem Abendbrot.

Während des Essens fragte er seine Frau, ob sie vielleicht wissen würde, wo die Feile abgeblieben sein könnte. Das hätte er besser bleiben lassen können, denn Frau Düring polterte sofort los: „Habe ich nicht schon genug Arbeit hier im Haus, soll ich mich vielleicht jetzt auch noch um Deine Schmiede kümmern? Seit die Kinder aus dem Haus sind bin ich hier allein mit der Arbeit, keine Hilfe im Garten oder sonst irgendwie, aber der Herr Schmiedemeister besteht natürlich darauf, pünktlich seine Mahlzeiten einzunehmen. Mein lieber Mann, wenn Du nicht in der Lage bist auf Dein Werkzeug aufzupassen, dann kann ich Dir auch nicht helfen.“ „Ist ja schon gut, war ja auch nur eine Frage.“ brummelte der Schmiedemeister und fragte sich zum zehntausendsten Mal, warum der Herr ihn mit einer so dominanten Frau gestraft hatte.

Doch ging dem Schmiedemeister die Sache mit der Feile nicht aus dem Kopf, er hatte die Werkstatt wirklich gründlich durchsucht, doch nirgends war das Werkzeug zu finden. Auch würde keiner der Gemeindemitglieder sich an seinen Sachen vergreifen, da war er sich absolut sicher. Auch als er schon im Bett lag überlegte er immer noch, wohin das Teil verschwunden sein könnte. Er ließ den Tag Revue passieren, wer war alles bei ihm in der Werkstatt gewesen?

Es fiel im wie Schuppen von den Augen: Hatten sie nicht das Mädchen alleine in der Schmiede gelassen, um Tee zu trinken? Nun war es mit seiner Nachtruhe vorbei, im Geiste stellte er sich vor, wie dieses Mädchen der de Fries sich mit Hilfe seiner Feile von der Kette befreite und flüchtete. Welchen Ärger würde er bekommen, wenn sich sein Verdacht bestätigen würde! Er rüttelte seine Frau wach, die ihn ungnädig anfauchte: „Düring, büst Du nu malle worn, mi midden in de Nacht wockertomoken, so sacht worst Du wohl braigenklütterig (Düring, bist Du nun verrückt geworden, mich mitten in der Nacht zu wecken, so langsam verlierst Du wohl Deinen Verstand).

Doch diesmal ließ sich Düring nicht von seiner Frau einschüchtern und erzählte ihr von seinem Verdacht. Die meinte, dass sie dem Mädchen so etwas durchaus zutrauen würde, gleich am Morgen solle er de Fries eine Nachricht zukommen lassen, damit er die Sache im Auge behalten könne.

Der Schmied verbrachte eine unruhige Nacht, gleich nach dem Frühstück schrieb er einen Brief an de Fries, in dem er seinen Verdacht aussprach und ihn darum bat, die Ketten des Mädchens zu kontrollieren.

Ein Bewohner aus Andersum, der die Milch nach Hohedörp gefahren hatte, brachte den Brief am Vormittag zu de Fries. Der wunderte sich zunächst sehr einen Brief vom Schmied zu bekommen, doch schnell wurde ihm die Wichtigkeit des Schreibens klar. Sollte dieses Mädchen wirklich so hinterlistig und falsch sein, wie der Schmied vermutete, würde er die weitere Verantwortung für sie ablehnen und sie zurück nach Hohedörp bringen.

Wilko de Fries passte auf wie ein Luchs, doch nichts deutete darauf hin, dass sie versuchte, mit einer Feile die Kette zu durchtrennen. Im Gegenteil, sie verhielt sich ordentlich, erledigte die ihr übertragenen Aufgaben zuverlässig, auch ihr übriges Verhalten gab keinen Grund zur Klage. Die Aufmerksamkeit von de Fries ließ langsam aber unaufhörlich nach, der Schmied würde seine Feile bestimmt selbst verlegt haben, vermutete er.

Die Vorsicht von Anja wurde belohnt, natürlich hatte sie mitbekommen, dass der Bauer, seit dem er einen Tag nach dem Diebstahl einen Brief bekommen hatte,  immer wieder ihre Ketten kontrollierte, was für ein Glück, dass sie nicht gleich am ersten Tag die Feile benutzt hatte, sonst hätte sie mal wieder ein dickes Problem gehabt.

So war sie weiterhin fleißig, verhielt sich freundlich und gewann langsam das Vertrauen der gesamten Familie. Auch hatte sie sich nun schon zum zweiten Mal ihre sonntägliche Prügel abholen müssen, diesmal brauchte sie noch nicht einmal angebunden zu werden, freiwillig legte sie sich über den Strafbock und ertrug die Schläge, die ihr Frau Düring mit scheinbar großer Genugtuung verabreichte. Doch ein Ding war sicher: Zum dritten Mal würde sie sich nicht mehr auf den Strafbock legen, es wurde Zeit, sich von den Ketten und von diesem Dorf auf Nimmerwiedersehen zu verabschieden.

So begann Anja jetzt, in jedem Augenblick, in dem sie sich unbeobachtet fühlen konnte, die Kettenglieder anzufeilen, doch nur soweit, dass bei jedem bearbeitetem Kettenglied zwei dünne Stege stehen blieben, die sie innerhalb von Minuten ganz durchtrennen konnte. Zuerst bearbeitete sie die Fußkette, anschließend die Kette des Halseisens. In die ausgefeilten Spalten der Kettenglieder schmierte sie eine Mischung aus Kuhdung und Harz, wer nicht genau hinsah konnte die Veränderungen an der Kette nicht sehen.

Drei Tage später war es soweit: Wilko de Fries und seine Schwester Hanna waren auf einem Acker am Arbeiten, die alten de Fries waren kurz zu einem Nachbarn gegangen. So kam es, dass Anja nur die Kette des Halseisens durchtrennen musste, da sie im Haus nur an der Laufkette angeschlossen war, die Arbeit mit den Fußfesseln hätte sie sich schenken können.

Sie ging durch den Stall und spähte nach draußen, nur vereinzelt in weiter Ferne konnte sie Leute auf den Feldern arbeiten sehen, vorsichtig und in gebückter Haltung lief sie über die Felder in die entgegengesetzte Richtung von Hohedörp, sie musste so schnell wie möglich durch den Kanal schwimmen, der dieses ganze Land umgab, dann wäre sie endlich wieder in der Freiheit.

Immer weiter lief sie, die halbe Strecke, und das waren immerhin rund 6 Kilometer, war schon fast geschafft, da traf sie ein Missgeschick, mit dem sie niemals gerechnet hätte.

Es war das nur das Eingangsloch von einer Wildkaninchenhöhle, in dem ihr linker Fuß stecken blieb, aber es reichte aus, um sie der Länge nach hinfallen zu lassen. Sie rappelte sich auf und wollte weiterlaufen, doch hatte sie sich den Knöchel verstaucht. Aber das sollte sie nicht daran hindern, in die Freiheit zu entkommen, mit zusammengebissenen Zähnen humpelte sie ihrem Ziel langsam, aber stetig, entgegen.

Nur noch 300 Meter trennten sie von ihrem Ziel, dem Kanal, als sie von vorne Reiter kommen sah. Sie schmiss sich flach auf den Boden, noch immer in der Hoffnung, von ihren Häschern nicht entdeckt zu werden, doch unaufhaltsam kamen die Reiter näher.

Jetzt hörte sie die Männer sich gegenseitig etwas zurufen, zwei Minuten später war sie von ihnen umzingelt, nun war auch ihre zweite Flucht  gescheitert, an das, was jetzt auf sie zukommen würde, mochte Anja lieber gar nicht erst denken, was auch besser war, denn für sie begann nun die härteste Zeit ihres ganzen Lebens.


Teil 32

Der Sommer ging langsam dahin, die zweite Maht Heu war in die Scheune gebracht, auch Gerste, Hafer, Weizen und Roggen waren gemäht und gedroschen,  und das Stroh in die Scheunen geschafft worden. Dafür hatten sie alle aber auch von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeiten müssen, nur gut, das in dieser Zeit die Kinder nicht zur Schule mussten und mit anfassen konnten. Der einzige freie Tag in der Woche war wirklich nur der Sonntag, die Fahrten nach Hohedörp und der Kirchgang waren fast die einzige Abwechslung die sie hatten.

So stand die Familie Wattjes auch diesem letzten Sonntag im Juli nach dem Kirchgang auf dem Dorfplatz, um Neuigkeiten auszutauschen. Für Monika, die als Kettenmädchen nicht beachtet werden durfte, war es ziemlich langweilig, meist von Fenna oder Swantje an der Kette festgehalten, immer mit den Fußfesseln versehen, stand sie mit gesenktem Blick dabei und durfte nichts sagen, nur diesen dämlichen Knicks musste sie bei jedem machen, der Familie Wattjes grüßte.

Während die Unterhaltungen der Leute kein Ende zu nehmen schien, gab es auf einmal vom Dorfweiher her ein Geschrei: „He is int Woter falln, he suppt glicks of  (Er ist ins Wasser gefallen, er wird gleich ertrinken). Monika traute ihren Augen nicht, ein kleiner Junge war ins Wasser gefallen, doch keiner sprang in den Weiher um ihn zu retten, die Männer brüllten nur, dass sie sofort Taue oder einen langen Stock brauchen würden.

Monika riss Swantje das Ende der Halseisenkette aus der Hand, lief so schnell es die Fußfesseln zuließen auf den Weiher zu und stürzte sich mit einem Hechtsprung in das Wasser hinein. Mit wenigen Schwimmstößen war sie bei der Stelle, an dem der Junge untergegangen war, holte noch einmal Luft und tauchte nach ihm. In der trüben Brühe konnte sie ihn zuerst nicht finden, doch dann fühlten ihre Hände einen Körper. Fest packte sie zu und zog den leblosen Jungen an die Oberfläche, um ihn an das Ufer zu bringen.

Dort wurde ihr der Kleine abgenommen und ins Gras gelegt, er rührte sich nicht mehr. Die Mutter des Jungen fiel neben ihm auf die Knie und schrie: Mien lüttje Jung is versoopen, he levt nich mehr, mien lüttje Jung is dod (Mein kleiner Junge ist ertrunken, er lebt nicht mehr, mein kleiner Junge ist tot).

Auch Monika hatte inzwischen wieder festen Boden unter den Füssen, ging zu der Mutter des Jungen und schob sie rücksichtslos zur Seite, um mit Wiederbelebungsmaßnahmen zu beginnen. Sie pumpte durch die Bewegungen mit seinen Armen das Wasser aus seinen Lungen, zwischendurch beatmete sie ihn, pumpte weiter. Mit einem Mal spuckte der Kleine eine ganze Ladung Wasser aus, das Leben strömte zurück in seinen kleinen Körper.

Überglücklich nahm die Frau ihr Kind in den Arm, das jetzt fürchterlich zu weinen anfing, während die Anderen, die bei dem Unglück nur zugesehen hatten, anerkennende Worte wechselten.

Nass wie eine Katze ging Monika zurück zur Familie Wattjes, gab Swantje das Ende ihrer Halskette in die Hand und sagte: „Entschuldigen Sie bitte, Frau Wattjes, aber es ging nicht anders.“ Swantje sah sie lächelnd an und meinte: „Dafür, mein Kind, brauchst Du Dich nicht zu entschuldigen, was Du eben gemacht hast, war mehr als mutig.“ und nahm sie, obwohl das bei einem Kettenmädchen nicht erlaubt war, liebevoll in den Arm.

„Jetzt aber schnell nach Hause, in den nassen Klamotten holt das Mädchen sich sonst noch eine Lungenentzündung.“ befahl Bauer Wattjes und wollte alle in die Kutsche einsteigen lassen, doch die Schmiedeleute hielten sie auf. „Warum kommt Ihr nicht bei uns vorbei, dann könnte ich dem Mädchen ein Kleid von meiner Tochter geben, dass bei uns noch immer in der Truhe liegt, obwohl sie schon lange ihre eigene Familie hat.“ sagte Frau Düring.

Eiso Wattjes sah seine Frau an, die nickte zustimmend und so machten sich alle auf in das Haus der Dürings. Dort angekommen ging Frau Düring erst an den Herd, um den Wasserkessel für den Tee aufzusetzen, zeigte Fenna, wo das Geschirr stand und verschwand mit Monika und Swantje in den hinteren Räumen.

Dort öffnete Frau Düring eine Truhe und holte ein Kleid heraus, hielt es an Monikas Rücken und meinte, dass es perfekt passen würde, ihre Tochter würde es sowieso nicht mehr tragen können. Doch jetzt legte Swantje Protest ein, das Kleid wäre zwar sehr schön, aber würde es keinen Ärger mit dem Gemeindevorstand geben, wenn sie gekleidet wäre wie ein freies Mädchen.

„Ärger?“ fragte die Düring, „wer vom Gemeindevorstand will Ärger machen, vielleicht die Vorstandsmitglieder, die selbstlos in den Weiher gesprungen sind um meinem Enkelsohn das Leben zu retten? Hier macht keiner Ärger, und wenn das Mädchen von uns das Kleid geschenkt bekommt, hat da niemand reinzureden.“

Selbst Swantje Wattjes kapitulierte vor der aufgebrachten Schmiedefrau, Monika wurden die nassen Kleider ausgezogen, mit einem Handtuch wurde sie trockengerubbelt und von Frau Düring komplett neu ausgestattet.

Nicht nur ein neues Kleid, nein, auch alles was eine unverheiratete Frau tragen durfte, holte Frau Düring aus der Truhe: Unterwäsche, die richtig angenehm zu tragen war und nicht kratzte, feingestrickte lange Strümpfe, einen aus einem guten Stoff gearbeiteten Unterrock, selbst ein Schultertuch zauberte sie aus der Truhe hervor.

Monika fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr, gern hätte sie sich in einem Spiegel betrachtet, doch zu ihren großen Bedauern gab es im Land der alten Dörfer keine Spiegel, weil das ein Ausdruck  von Selbstgefälligkeit und Eitelkeit gewesen wäre.

Zurück in der Küche wurde Monika gebührend bewundert, was ihr aber sichtlich peinlich war, mit hochrotem Kopf blickte sie verschämt zu Boden, so ein Aufhebens um ihre Person war sie nun wirklich nicht mehr gewohnt. Auch die anschließenden Lobreden machten sie verlegen, und so war sie froh, als es nach Andersum zurückging.


Teil 33

Die Woche verging wie gewohnt mit viel Arbeit, von Monikas Rettungsaktion wurde nicht mehr gesprochen, doch am nächsten Sonntag bemerkte sie Veränderungen: Sie waren  mit der Kutsche zum Gottesdienst gefahren und auf dem Dorfplatz ausgestiegen, Fenna hielt die Kette von ihrem Halseisen und die Familie Wattjes ging geschlossen zur Kirche. Wie immer grüßten die anderen Leute,  auch jetzt wurde Monika nicht von den anderen angesprochen, aber immerhin wurde ihr nun manchmal zugelächelt.

Auf ihrem Platz in der Kirche angekettet hörte Monika dem Pastor zu, der gerade damit angefangen war, einigen der Mädchen ihr Strafmass zu verkünden. Da sie ein reines Gewissen hatte, traf sie fast der Schlag als der Pastor rief: „Ich rufe auf das Mädchen der Familie Wattjes!“ Sich keiner Schuld bewusst stand sie auf, den Blick nach unten gerichtet und die Hände vor dem Leib gefaltet, trotz ihres reinen Gewissens überkam sie ein ungutes Gefühl.

„Liebe Gemeinde,“ begann der Pastor, „seht Euch dieses Mädchen an, nicht nur, dass sie sich in der ganzen letzten Zeit vorbildlich verhalten hat, nein, liebe Gemeinde, sie wurde sogar, als sie ein Mädchen an der Flucht hindern wollte, wegen ihres vorbildlichen Verhaltens hinterrücks niedergeschlagen, war aber auch noch großherzig genug, ihrer Peinigerin zu verzeihen, das, liebe Gemeinde, nenne ich eine aufrichtige, christliche Gesinnung.  Was sie aber letzten Sonntag getan hat, war mehr als nur selbstlos: Mutig hat sie sich in den Weiher geworfen und einem kleinen Jungen das Leben gerettet. Aus diesem Grund hat der Rat  beschlossen, dieses Mädchen zu belohnen. In Zukunft soll sie mit ihrem Namen angesprochen werden, auch soll sie beim Gottesdienst bei Ihrer Familie sitzen dürfen.“

Der Pastor sah Bauer Wattjes an und sagte: „Eiso Wattjes, gehe hin und hole Monika in den Kreis Eurer Familie.“ Das ließ Wattjes sich nicht zweimal sagen, er stand auf, ging zur hinteren Bank, befreite Monika von der Kette und führte sie zu der Bank, in der seine Familie saß.

Für Monika war dass ein so überwältigendes Erlebnis, dass ihr beim Einsetzen der Orgelmusik Tränen der Dankbarkeit in die Augen stiegen, selten war sie so glücklich gewesen. Nicht ganz so glücklich war der Rest der Gemeinde, denn diese Ereignisse beflügelten den Pastor bei seiner Predigt derartig, so dass er kein Ende finden konnte und der Gottesdienst diesmal rund zwei Stunden dauerte.

Nach dem Kirchgang standen Wattjes und Monika auf dem Dorfplatz, als der Bürgermeister von Hohedörp zu ihnen kam. Auch er sprach noch mal Lobesworte aus und meinte, dass der Rat noch eine weitere Überraschung für Monika hätte, sie solle Anfang der Woche in die Schmiede kommen, dann würde sie schon sehen.

Sonst war Monika das Getratsche auf dem Dorfplatz ziemlich auf die Nerven gegangen, doch nun, wo sie in die Gespräche mit einbezogen wurde, hätte sie am liebsten den ganzen Tag hier verbracht. Inzwischen verstand sie auch schon einigermaßen Plattdeutsch und versuchte es auch zu sprechen, doch das war nicht so ganz einfach, denn Plattdeutsch ist kein Dialekt, sondern eine eigenständige Sprache. Doch das Meiste, was sie von sich gab, wurde von den Anderen verstanden, über Fehler wurde hinweggesehen, wichtig war nur, dass sie es versuchte.

Spät ging es diesen Sonntag nach Andersum zurück, während der ganzen Zeit überlegte Monika, was Schmiedemeister Düring wohl mit ihr anstellen würde. Doch da es sich um eine Belohnung handelte, konnte es ja nichts Schlimmes sein.

Erst am Mittwoch fand Wattjes Zeit, um mit Monika nach Hohedörp zum Schmied zu fahren. In der Schmiede angekommen wurde ihr als zunächst die Fußfessel abgenommen und durch eine leichtere Kette ersetzt, diese Kette war so lang, dass Monika zur ihrer großen Freude  ohne Probleme große Schritte machen konnte.

Nun wurde ihr das Halseisen abgenommen, so vorsichtig der Schmied auch arbeitete, die Schläge mit Hammer und Meißel auf die Verschlussstellen des Halseisens dröhnten ihr im Kopf. Dafür war es für sie aber auch ein herrliches Gefühl, als ihr das schwere Eisen vom Hals genommen wurde.

„Ja, Monika,“ sagte Meister Düring, „wenn es nach mir ginge würdest Du kein Halseisen mehr tragen müssen,  aber jedenfalls hat der Rat nicht vorgeschrieben, wie das Eisen aussehen muss, und so habe ich für Dich als Dank für die Rettung unseres Enkels ein ganz besonderes Teil angefertigt, von dem ich hoffe, dass es Dir gefallen wird.“

Nach diesen Worten ging er vor die Schmiede und rief nach seiner Frau, die gleich darauf in die Werkstatt kam, in der einen Hand hielt sie einen Gegenstand, der in ein Tuch eingeschlagen war. Sie legte das Teil auf die Werkbank und forderte Monika auf es selbst auszupacken, schließlich wäre es ja auch für sie gemacht worden.

Neugierig wickelte sie das neue Halseisen aus, sah ungläubig auf das, was da nun auf der Werkbank lang: Das war kein Halseisen, sondern ein wunderschöner Halsreif, in dem altfriesische Verzierungen eingearbeitet waren. „Das ist ein wunderschöner Halsreif,“ sagte Monika, „aber das ist doch ein richtiges Schmuckstück und kein Halseisen, soll der wirklich für mich sein.“ „Natürlich ist der für Dich,“ sagte Düring, „aber sehe ihn Dir erst mal genauer an, das Beste hast du noch nicht gesehen.“

Monika betrachtete den Halsreif von allen Seiten: Während das alte Halseisen aus einem breiten Eisenband gearbeitet worden war, hatte dieser Halsreif eine runde Form, wie ein großer Ring, zwar war auch an ihm vorne eine Kette befestigt, doch war diese Kette um vieles leichter als die alte.

Aber das war noch nicht alles, denn dieses Teil schien aus einem ganz anderem Material hergestellt worden zu sein. Als Monika den Schmiedemeister darauf ansprach, grinste er nur und meinte: „Auch da gibt es vom Rat keine Vorschriften, darum habe ich diesen Halsreif aus Silber bearbeitet. Aber sieh noch mal genau hin, es gibt noch einen weiteren Unterschied.“

„Nun spann Monika doch nicht auf die Folter.“ schimpfte Frau Düring gutmütig mit ihrem Mann, worauf der einen kleinen Schlüssel aus der Tasche holte. „Dieser Halsreif wird nicht angeschmiedet,“ erklärte er, „sondern ist hinten durch einen Schlüssel zu verschließen, und natürlich auch jederzeit zu öffnen.“

Aber nun wollen wir erst mal sehen, ob das gute Stück auch passt oder ob Du doch das alte Halseisen wieder umgelegt bekommen musst.“ scherzte Düring und wollte ihr den Halsreif umlegen, doch da protestierte seine Frau: „Das lass mich lieber machen, Du bist wohl geschickt im Umgang mit Eisen und Amboss, aber an Monika lasse ich Dich nicht heran.“ Düring grinste nur und gab seiner Frau den inzwischen geöffneten Halsreif.

„Dann komm mal her, mein Kind, mal sehn, ob mein Mann das richtige Maß genommen hat und legte den Halsreif vorsichtig um Monikas Hals, drückte ihn sanft zu und drehte den Schlüssel um. „Wie fühlt es sich an,“ fragte sie, „sitzt er auch nicht zu eng?“ „Aber nein,“ rief Monika, „da drückt überhaupt nichts, und es fühlt sich viel angenehmer an als das alte Halseisen, es ist einfach nur schön.“

„Das freut uns wirklich,“ sagte der Schmiedemeister, „vor allen Dingen mich selbst, denn was glaubst Du wohl was meine Frau mir erzählt hätte wenn der Halsreif zu eng gewesen wäre.“ nahm dabei aber seine Frau in den Arm und lächelte sie an, es war den Beiden anzusehen, dass sie sich darüber freuten, Monika so angenehm überrascht zu haben.

Nun schickte Frau Düring ihren Mann und Bauer Wattjes aus der Werkstatt hinaus, bei der letzten Sache könnten sie die Männer hier nicht gebrauchen. Kaum waren die Beiden verschwunden, als Frau Düring eine kurze, dünne Kette holte und zu Monika meinte: „So schön die lange Fußfessel auch ist, wir werden sie etwas hochbinden müssen, sonst wirst Du ständig auf die Nase fallen, weil die Kette sich irgendwo verhakt.“

Monika hatte den Rock hochzuheben und Frau Düring wollte gerade die Kette an ihrem Keuschheitsgürtel festmachen, als sie feststellte, dass Monika wohl abgenommen haben müsse, auf jeden Fall sei ihr Keuschheitsgürtel zu weit geworden, was ihr im Laufe der nächsten Zeit bestimmt Probleme bereiten würde, weil dadurch die Haut unter dem Gürtel aufgescheuert werden würde.

Sie holte eine ganze Kiste voll kleiner Schlüssel und probierte solange, bis sie einen passenden Schlüssel für Monikas Keuschheitsgürtel gefunden hatte. Nachdem das Schloss entfernt war, nahm sie ihr den Gürtel ab, ging in den Lagerraum und kam mit einem neuen Keuschheitsgürtel wieder, den sie ihr gleich umlegte.

„Dieser Gürtel passt wesentlich besser.“ meinte sie und nahm ihn wieder ab, um die Innenseiten des Tugendwächters reichlich mit Salbe zu bearbeiten. Sie legte ihn Monika wieder um und verschloss ihn, nicht ohne zu fragen, ob sie ihn vielleicht zu eng gemacht hätte. Doch Monika meinte, dass er perfekt passen würde, empfand den jetzt wieder stärkeren Druck auf Hintern und Schambereich als durchaus angenehm.

Jetzt konnte das eine Ende der kurzen Kette am KG befestigt werden, die Fußkette wurde angehoben und das andere Ende an ihr befestigt, so dass die Kette der Fußfesseln beim Laufen nicht mehr über den Boden schleifen musste. Damit hatte Frau Düring genau das erreicht, was sie vorgehabt hatte: Auf der einen Seite war den Vorschriften Genüge getan, auf der anderen Seite konnte Monika jetzt fast unbeschwert laufen.

„Das wäre es dann,“ meinte Frau Düring und wollte die Werkstatt verlassen, wurde aber von Monika noch aufgehalten. „Frau Düring,“ sagte Monika, „ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen danken soll, das kann ich doch nie wieder gutmachen.“, fiel der Schmiedefrau um den Hals und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange.

Arm in Arm kamen die Beiden ins Freie, nachdem sich Monika auch bei Meister Düring in aller Form bedankt hatte drängt Wattjes zur Eile, ihm knurrte schon wieder der Magen.
Auf der Rückfahrt wurde nicht viel gesprochen, Monika saß auf dem Wagen und lächelte still vor sich hin. Bauer Wattjes führte das auf  ihren neuen Halsreif zurück, konnte er doch nicht ahnen, dass Monika in ihrem neuen, engen Keuschheitsgürtel durch die Vibrationen des Ackerwagens auf das Herrlichste stimuliert wurde.


Teil 34            Anja in Moorum 1

„Steh auf“ befahl einer der Reiter, der vom Pferd abgestiegen war. Anja rappelte sich hoch und ließ sich widerstandslos die Hände auf dem Rücken fesseln, auch ihre Füße wurden zusammengebunden, danach wurde sie wie ein Kartoffelsack bäuchlings auf das Pferd von Wilko de Fries gelegt.

Auf der Straße angekommen trennte sich die Reiterschar, die meisten kehrten nach Andersum zurück, nur einer der Reiter begleitete de Fries, der den Weg mach Moorum eingeschlagen hatte. Es war ein langer Weg, vor allen Dingen für Anja, der Strafkeuschheitsgürtel tat ihr in dieser ungewohnten Haltung fürchterlich weh, auch dass sie die ganze Zeit mit dem Kopf nach unten auf dem Pferderücken hing, machte ihr ziemlich zu schaffen.

Nach einem endlos langem Ritt kamen die beiden Reiter in einem kleinen Dorf an, dass einen schon fast ärmlichen Eindruck machte: Die Häuser waren klein und gedrungen, hier waren keine gepflegten Gärten zu sehen, nein, Moorum konnte dem Vergleich mit Hohedörp oder Andersum nicht standhalten.

Doch auch hier gab es einen Dorfplatz, und auch auf diesem Platz war ein dicker Eichenpfahl in die Erde gerammt worden. Dort wurde Anja vom Pferd gehoben, die gefesselten Füße wurden befreit und sie mit einem Tau so kurz  an den Pfahl angebunden, dass sie nur gebückt stehen konnte, ohne Rücksicht auf ihren schmerzenden Fuß.

Die beiden Männer gingen in ein Haus, hielten sich dort aber nur kurz auf, denn schon nach einigen Minuten kamen sie wieder heraus, stiegen auf ihre Pferde und ritten davon, ohne Anja auch nur noch einmal anzusehen.

Stundenlang war sie an den Pfahl gefesselt, ihr Fuß schmerzte genau so wie ihr Rücken. Es kamen zwar immer wieder Leute vorbei, doch keiner kümmerte sich um sie, für die Dorfbewohner war sie Luft. So langsam wurde ihr klar, dass sie sich mit ihrem zweiten Fluchtversuch selbst keinen Gefallen getan hatte. Dieses Moorum gefiel ihr nicht, es war ihr geradezu unheimlich an diesem Ort.

Erst am Abend kümmerte sich ein Mann um sie, er löste das Tau von dem Pfahl und zog Anja in eine kleine, kümmerliche Hütte ohne Fenster. Dort nahm er den Strick ab, befestigte dafür mit einem Vorhängeschloss eine in dem Boden verankerte Kette an ihrem Halseisen, ging hinaus und schloss die Tür.

Anja war erst mal froh, ihren Rücken durchstrecken zu können, jeder einzelne Muskel tat ihr weh. Sie versuchte sich in der Hütte umzusehen, doch es war so dunkel, dass sie nichts erkennen konnte, nur ein kleiner Lichtstrahl vom letzten Tageslicht fiel unter der Tür hindurch, aber auch der war mit der einsetzenden Dunkelheit bald verschwunden.

Die schwere Eisenkette war so kurz, dass sie die Tür nicht erreichen konnte, es blieb ihr nichts anderes übrig als sich auf den nackten Boden zu setzen. Die Zeit schien stillzustehen, kein anderes Geräusch als das ihres eigenen Atems war zu hören. Langsam aber stetig wuchs ihre Angst, sie hatte nicht die geringst Ahnung, was auf sie zukommen würde, aber viel Gutes würde sie wohl nicht erwarten können.

Trotz Hunger und Durst wurde sie müde und streckte sich auf dem Boden aus, langsam fiel sie in einen leichten Schlaf. Mit einem Mal spürte sie, dass etwas über ihren Körper lief, mit einem Satz sprang sie auf die Füße, da hörte sie auch schon das Fiepen einer Ratte. Verzweifelt riss sie an der Kette, schrie um Hilfe, doch niemand kam, um nach ihr zu sehen, so blieb ihr nichts anderes übrig als die ganze, scheinbar endlose Nacht stehend zu verbringen.

Endlich kroch wieder ein leichter Lichtstrahl unter der Tür hindurch, diesen Alptraum von einer Nacht hatte sie im wahrsten Sinn des Wortes überstanden,  jetzt konnte sie sehen, dass sich keine Mäuse oder Ratten mehr in dem Raum befanden. Erschöpft legte sie sich auf den Boden um jetzt endlich etwas zu schlafen, doch da wurde die Tür aufgestoßen und eine Frau brachte ihr schweigend eine Holzschüssel mit einem Brei, eine trockene Scheibe Schwarzbrot und einen Becher dünnen, ungesüßten Tee.

Angewidert löffelte Anja den undefinierbaren Brei in sich hinein, wenn es auch noch so ekelig schmeckte,  ihr Körper verlangte nach Nahrung. Außerdem musste sie bei Kräften bleiben, denn das war ihr jetzt schon klar: Hier würde sie niemals bleiben, bei der ersten Gelegenheit würde sie auch den dritten Fluchtversuch unternehmen.   

Lange Zeit kümmerte sich niemand um die Gefangene, erst am frühen Nachmittag wurde die Tür der Hütte wieder geöffnet, zwei Frauen kamen herein und forderten sie auf, sich auszuziehen. Anja blieb nichts anderes übrig als zu gehorchen, sie zog das Kleid über den Kopf und streifte es über die Kette, auch die Wäsche hatte sie auszuziehen. Eine der Frauen gab ihr ein Kleid, für das der Ausdruck „Lumpen“ noch schmeichelhaft war,  vergleichbar mit einem Sack, in den Löcher für Kopf und Arme hineingeschnitten sind.

Die Frauen banden ihre Hände auf dem Rücken zusammen, öffneten das Schloss am Halseisen, nahmen ihr die im Boden befestigte Kette ab, schlossen aber gleich darauf wieder eine kurze Kette an das Halseisen an und führten sie an der Kette vor die Tür.

Wieder wurde sie auf den Dorfplatz geführt, und wie auch schon am Tag vorher an dem Pfahl angekettet, immerhin war die Kette so lang, dass sie aufrecht stehen konnte. Über eine Stunde lang passierte nichts, Dorfbewohner kamen und gingen, selbst die Kinder zogen achtlos an ihr vorüber.

Von fern sah sie einen geschlossenen Wagen mit zwei Pferden davor auf das Dorf zukommen, als das Gefährt näher kam konnte sie den Mann auf dem Kutschbock erkennen, im gleichen Augenblick wusste sie, dass dieser Mann wegen ihr hierher kam, dieser Mann war nun wirklich der Letzte, den sie im Moment gebrauchen konnte.


Teil 35

Der größte Teil der Feldarbeiten war für dieses Jahr erledigt, die dritte Maht Heu lag in der Scheune, im September waren die Rüben vom Acker geholt worden, und auch die Kartoffelernte im Oktober war endlich vorbei.

Dafür waren jetzt die Kühe wieder auf dem Stall, also ging es wieder los mit Ausmisten und Füttern, doch das war nicht weiter schlimm, denn jetzt ging es über Tag gemütlicher zu. Je kürzer die Tage wurden, umso weniger brauchten sie alle zu arbeiten.

An einem Sonntag kam unverhoffter Besuch, Familie Wattjes saß gerade beim Nachmittagstee und Butterkuchen, als ein Reiter auf den Hof kam. Neugierig schaute auch Monika aus dem Fenster, den Mann kannte sie: Es war der Rechtsanwalt Meyerdirks, der nun auf das Haus zukam.

Bauer Wattjes ging nach draußen, um den Gast zu begrüßen und ins Haus zu bitten, während Monika sich fragte, ob dieser Besuch des Rechtsanwalts etwas mit ihr zu tun haben würde, und wenn, ob er etwas Gutes oder Schlechtes  zu bedeuten hätte.

Anwalt Meyerdirks wurde von der ganzen Familie hochachtungsvoll begrüßt, jeder von ihnen wusste, was für ein wichtiger Mann er für das Land der alten Dörfer war. Auch Monika verhielt sich diesmal vorschriftsmäßig, machte einen tiefen Knicks vor ihm und verharrte in der Stellung solange, bis sie von ihm angesprochen wurde.

„Nun Mädchen,“ sagte er, „mir scheint, dass Du Dich gut eingelebt hast, auch hörte ich gute Dinge von Dir, ja, in der Tat, gute Dinge. Inzwischen wirst Du ja auch schon mit Deinem Namen angesprochen, das ist ein gutes Zeichen für Dein Wohlverhalten. Die ersten sechs Monate im Land der alten Dörfer sind nun vorbei, nun noch einmal die gleiche Zeit und Du kannst zu Deinen Eltern zurückkehren.“

Meyerdirks redetet und redete, was ihn aber nicht daran hinderte, sich zwischendurch vier Stücke Butterkuchen einzuverleiben. Irgendwie waren alle erleichtert als er wieder ging, sein ständiger Redefluss war auf die Dauer doch ziemlich nervig.

Normalerweise hätte Monika sich jetzt freuen müssen, die Hälfte der Zeit ihres Zwangsaufenthalts war vorbei, und wie es im Moment aussah, würde einer Entlassung in einem halben Jahr nichts entgegenstehen. Einerseits freute sie sich auf ihren alten Bekanntenkreis, endlich mal wieder auf eine Party gehen, sich vielleicht mal wieder einen Joint gönnen, anderseits war ihr die Familie Wattjes ans Herz gewachsen, aber darüber konnte sie sich immer noch Gedanken machen, sechs Monate waren noch eine lange Zeit.

Später am Nachmittag nahm Fenna sie an ihrer Halskette, die Beiden wollten noch etwas im Dorf spazieren gehen. Langsam liefen sie die Strasse entlang, Monika genoss es noch immer von den Dorfbewohnern mit ihrem Namen begrüßt zu werden, wären Fußkette, Halseisen und Keuschheitsgürtel nicht gewesen, hätte sie sich als vollwertiges Mitglied der Gemeinde fühlen können, aber auch so war sie nicht unzufrieden.

An diesem Sonntag sprach Fenna zum ersten Mal von ihrer im April bevorstehenden Schulentlassung und von der Zeit in der Fremde. Monika sah sie verwundert an und fragte, was sie denn mit der Zeit in der Fremde meinen würde.

Erst wollte Fenna nicht mit der Sprache heraus, doch als sie Monika das Versprechen abgenommen hatte, nichts von ihrer Unterhaltung weiterzuerzählen, klärte sie Monika auf.

„Alle Mädchen und Jungen,“ erklärte sie ihr, „die aus der Schule entlassen worden sind, müssen für mindestens ein halbes Jahr in eine andere Gemeinde, aber nicht innerhalb von dem Land der alten Dörfer, sondern ins Ausland.“

Monika sah sie verwundert an und Fenna berichtete weiter: „Es gibt noch mehr Gemeinden, in denen die Menschen so leben wie wir. Eine Gemeinde befindet sich in Süddeutschland, aber wir haben auch Kontakt mit Dänemark, Holland und Frankreich. Wohin man geschickt wird entscheidet der Rat, sich selbst ein Land aussuchen, das geht nicht.“

„Weißt Du schon, wann und wohin Du geschickt wirst?“ wollte Monika wissen. „Nein,  eine Woche vor der Abreise kommt ein Bescheid ins Haus, erst dann weiß ich, wohin die Reise geht.“

„Ist es nicht schlimm für Dich, wenn Du alleine in die Fremde gehen musst, weg von den Eltern, Geschwistern und Bekannten? Wer weiß, zu was für Leuten Du kommst, ob Du Dich überhaupt mit ihnen verstehst, und ob es Dir da gefällt.“

„Danach fragt keiner, während dieser Zeit muss man sich eben anpassen, darum wird es ja auch Bewährungszeit genannt. Aber Angst habe ich nicht, ganz im Gegenteil, denn während dieser Zeit kann ich mich auch nach einem zukünftigen Ehemann umsehen, das ist auch einer der Gründe, warum eine bestimmte Zeit im Ausland verbracht werden muss.“

„Was ist denn, wenn du dort einen jungen Mann kennen lernst und ihn heiraten möchtest, musst du dann für immer ins Ausland?“ „Nicht unbedingt, es kommt darauf an, ob er den Hof seiner Eltern eines Tages übernimmt, dann würde ich für immer dort hinziehen, es kann aber auch sein, das hier ein Hof frei wird, dann wäre es möglich hier zu leben.“ „Aber was ist, wenn Du dort einen netten Jungen kennen lernst und Du von ihm schwanger wirst?“ „Wie soll das denn möglich sein?“ fragte Fenna ganz verwundert.

„Ach du meine Güte,“ dachte Monika, „wie soll ich ihr das nur erklären, vielleicht mit der Geschichte von den Blumen und den Bienen?“ Ganz vorsichtig versuchte sie Fenna aufzuklären: „Weißt Du, Fenna, wenn ein Mädchen und ein Junge sich ganz lieb haben, und sehr zärtlich miteinander sind.......“ Weiter kam sie nicht, denn Fenna schüttelte sich vor Lachen, was Monika nun gar nicht verstehen konnte. „Ach, Monika, Du bist vielleicht ein Schaf, meinst Du im Ernst ich weiß nicht, warum die Kuh zum Bullen gebracht wird? Um sie zu decken, selbstverständlich.“

Leicht eingeschnappt fragte Monika. „Wenn Du das weißt, dann erkläre mir bitte mal, wieso es nicht möglich sein soll, dass Du von einem Jungen schwanger wirst.“ „Oh Monika,“ rief Fenna, „was bei der Kuh geht, funktioniert bei mir mit Sicherheit nicht.“ „Und wieso?“ wollte sie wissen. Fenna liefen die Lachtränen nur so herunter als sie zu Monika sagte: „Weil die Kuh im Gegensatz zu mir keinen Keuschheitsgürtel trägt, du Dummerchen.“


Teil 36            Anja in Moorum 2

Schmiedemeister Düring hielt seinen Wagen auf dem Dorfplatz an, sah kopfschüttelnd einmal zu Anja herüber und ging in das Haus, in dem gestern auch Wilko de Fries und sein Begleiter gewesen waren. Über eine halbe Stunde dauerte es, bis der Schmied in Begleitung eines Mannes wieder aus dem Haus herauskam, mit Sicherheit hatten die Beiden erst wieder Tee getrunken.

Bei Anja angekommen sagte der Mann: „Hör zu, Mädchen, ich erzähle Dir das nur einmal: Ich bin Jan Siefkes, der Ortsvorsteher von Moorum. Warum Du hierher gebracht worden bist, wirst Du selbst am besten wissen. Ein Ding sage ich Dir gleich: Von hier aus gibt es keine Flucht, das ist noch keiner gelungen. Was Deine Zukunft anbelangt hast Du drei Möglichkeiten: Du machst was man Dir sagt, dann könnte es sein, dass der Rat Dich nach ein oder zwei Jahren wieder gehen lässt, wenn nicht, wirst Du so lange Torf stechen, bis Du alt und grau bist, und falls Dir das nicht gefallen sollte, kannst Du Dich immer noch im Moor versenken, niemand wird Dir eine Träne nachweinen. Hast Du das verstanden was ich Dir gesagt habe?“

Anja sah ihn nur hasserfüllt an und sagte nichts, im gleichen Augenblick zog Siefkes ihr einen Streich mit der Reitgerte über, die er bisher hinter dem Rücken gehalten hatte. „Ob du mich verstanden hast, will ich wissen?“ brüllte er sie an und hob die Gerte ein zweites Mal hoch.
„Jawohl, Herr Siefkes.“ rief Anja schnell, und machte auch instinktiv den vorgeschriebenen Knicks, einen zweiten Schlag wollte sie sich nicht einfangen, dafür war die Handschrift dieses Ortvorstehers viel zu kräftig.

Düring fing an seine fahrbare Schmiede aufzubauen, es hatte alles dabei, was er für seine Arbeit benötigte. Einer der Dorfbewohner brachte eine Schaufel mit glühenden Kohlen, das Feuer in der Esse brauchte nicht lange, um die erforderliche Temperatur zu erreichen.

Als erstes befreite Düring sie von dem Halseisen, aber nur um ihr ein anderes, viel schwereres Eisen, wie sie es vorher auch schon tragen musste,  wieder umzulegen und mit einem glühenden Eisenstift zu verschließen, auch dieses Halseisen hatte wieder eine kurze Kette, an der sie geführt werden konnte.

Das Tau, dass ihre Hände auf dem Rücken zusammenhielt, wurde gelöst, um die Armreifen an ihren Handgelenken mittels einer Kette zu verbinden, die aber auch noch durch den den Ring des Halseisens lief. Nun wurde auch noch eine schwere Kette an den Fußreifen befestigt, nicht wie die Armkette nur mit Schlössern, sondern die Kette wurde angeschmiedet.

Anja meinte schon die Prozedur endlich überstanden zu haben, als Düring zu seinem Wagen ging und eine Eisenkugel mit einer 3 Meter langen Kette herausholte, die wurde an dem Ring, der sich in der Mitte der Fußkette befand, angeschmiedet.

Jetzt kamen die beiden Frauen, die sie auf den Dorfplatz gebracht hatten, wieder zu ihr, die Eine nahm das Ende der Halseisenkette, forderte Anja auf, die Eisenkugel zu tragen und zog sie zu der Hütte, in der sie die letzte Nacht verbracht hatte, zurück.

Zweimal musste Anja trotz des relativ kurzen Weges die Kugel ablegen, sie war zu schwer. In der Hütte wurde sie wieder an den Ring im Boden angeschlossen und alleine gelassen. Am Abend brachte eine Frau eine dünne Suppe und ein Stück Brot zu der Gefangenen, auch einen Becher mit Tee und einen Krug mit Wasser stellte sie ihr hin.

Wieder kam die Dunkelheit, wieder stand ihr eine lange Nacht bevor, aus Ekel und Angst vor den Ratten legte sie sich erst überhaupt nicht hin, die ganze Zeit über stand sie in dem Raum. Früh am Morgen öffnete sich die Tür, eine Frau löste die Kette von den Bodenring, ließ Anja die Eisenkugel hochnehmen sie vor der Hütte in eine hölzerne Schubkarre legen. „Auf was wartest Du noch,“ sagte die Frau, „pack die Karre an und schieb sie in Richtung Moor.“ und zeigte mit dem Arm in die Richtung, die Anja einzuschlagen hatte.

Kaum hatten sie das Dorf verlassen als von einer Straße nichts mehr zu sehen war, auf einem vom Regen der letzten Nacht aufgeweichtem Feldweg schob sie mühsam die Karre vor sich her. Eine Stunde waren sie schon gelaufen, Anja war am Ende ihrer Kräfte, doch jedes Mal, wenn sie langsamer wurde, bekam sie einen Schlag mit einer Peitsche auf den Rücken. Vor Erschöpfung torkelnd schob sie die Karre weiter, hier gab es nicht einmal mehr Feldwege, es war nur ein schmaler Pfad, auf dem sie entlang gingen.

„Anhalten!“ befahl die Frau, erleichtert stellte Anja die Karre ab, ihre Finger waren schon verkrampft. „Ich werde Dir mal etwas zeigen,“ sagte die Frau und holte einen Stein aus der Karre, den sie auf das Land neben dem Pfad warf. Als der Stein auf das Land fiel hörte Anja ein ihr fremdes, fast schmatzendes Geräusch, verwundert sah sie zu wie der Stein in dem Land versank. „Das hier ist Moor,“ erklärte die Frau, „falls Du wirklich noch einmal versuchen solltest zu fliehen, ergeht es Dir genau wie dem Stein.“

Schon musste Anja die Karre wieder weiterschieben, immer weiter auf dem Pfad entlang in dieser unwirklichen Gegend. Endlich sah sie ein paar Hütten stehen, und tatsächlich waren sie am Ziel angekommen. Neben der einen Hütte lag ein großer Findling (Stein), in dem ein Eisenring eingelassen war, an dem wurde sie angekettet. Die Frau nahm wortlos die Schubkarre und ging zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Körperlich und seelisch am Ende ließ Anja sich auf den Boden fallen, zwei Nächte ohne Schlaf waren einfach zuviel, so dauerte es nicht lange, bis sie in einem festen Schlaf versank.
Die Ruhezeit war aber nur kurz, unsanft wurde sie geweckt, und noch ehe sie selbst wusste, wo sie war, wurde sie von einer Art Mannweib angeschrieen: „Komm auf die Füße, Du Miststück, hier wird über Tag  nicht geschlafen.“

Zwar mühsam aber so schnell wie sie nur konnte, stand sie auf, sie merkte sofort, dass mit dieser Frau nicht zu spaßen war. „Du wirst mich mit Frau Bültena ansprechen, aber nur, wenn Du etwas gefragt wirst, sonst hast Du den Mund zu halten. Namen gibt es hier für Euch nicht, Du bist die Nummer Acht, merk Dir das.“

Damit drehte sie sich um und ging in eine der Hütten, während Anja einsam und verlassen an dem Findling stand. Es dauerte nicht lange, als eine ganze Gruppe langsam auf die Hütten zukam, Anja glaubte in ihrem ganzen Leben noch nie so etwas Trauriges gesehen zu haben.


Teil 37

„Du trägst doch überhaupt keinen Keuschheitsgürtel.“ sagte Monika verwundert. „Noch nicht,“ klärte Fenna sie auf, „doch nach der Schulentlassung im nächsten April kommt mein großer Tag, dann werde ich in den Kreis der jungen Frauen aufgenommen.“

„Jetzt verstehe ich aber immer noch nicht, was das mit einem Keuschheitsgürtel zu tun hat.“ meinte Monika. „Alle jungen Frauen tragen bis zum Tag ihrer Hochzeit einen Tugendwächter, so war das bei uns schon immer, hier hat noch keine Frau vor der Eheschließung ein Kind bekommen.“

„So gesehen macht das Sinn,“ gab Monika zurück, „aber dann könnte es doch sein, dass du den Gürtel viele Jahre tragen musst.“ „So schlimm wird es nicht werden, die meisten heiraten doch schon mit 18 Jahren, dann ist es ja überstanden. Außerdem brauche ich den Gürtel nicht im Haus zu tragen, das macht die Sache dann noch leichter, trotzdem sehe ich etwas dagegen an, in einen Eisengürtel eingeschlossen zu werden, wie kommst du eigentlich damit klar?“

„Inzwischen habe ich mich so an den Gürtel gewöhnt, dass ich ihn meistens schon nicht mehr merke, manchmal kommt es mir vor, als hätte ich ihn schon mein Leben lang getragen. Mach dir also keine Sorgen, so schlimm ist es wirklich nicht.“

Auf dem Weg nach Hause begegneten sie der Nachbarstochter Hanna de Fries, die sich ihnen anschloss. Hanna wollte von den Beiden wissen, über was sie sich eben so angeregt unterhalten hätten, so kam man wieder auf das Thema Keuschheit zu sprechen. Monika konnte sich nicht vorstellen, dass auch Hanna einen Keuschheitsgürtel trug, doch die forderte Monika auf sie an der Taille anzufassen, wo sie das Metall fühlen konnte.

„Wer kontrolliert eigentlich, ob ihr wirklich den Gürtel tragt oder nicht?“ wollte Monika wissen. „Das kann eine Nachbarin sein, oder die Frau vom Ortsvorsteher, aber auch jede andere Frau aus dem Dorf, sie fühlen einfach, genau wie du eben gerade, kurz an der Taille und merken sofort, ob ein Mädchen verschlossen ist oder nicht. Aber keiner von uns würde es einfallen unverschlossen aus dem Haus zu gehen, schließlich haben wir in der Kirche vor der ganzen Gemeinde  Versprechen abgelegt, den Keuschheitsgürtel immer zu tragen, wenn wir aus dem Haus gehen.“

„Sag mal, Hanna, hast du Deine Bewährungszeit eigentlich schon hinter dir?“ fragte Monika. „Nein,“ meinte die, „ich hätte das schon längst hinter mir haben müssen, aber wer soll bei uns im Haus die Arbeit machen, meiner Mutter geht es gesundheitlich nicht so gut, als das sie die Arbeit alleine schaffen könnte, also ist es bei mir immer wieder aufgeschoben worden. Aus diesem Grund ist uns ja auch vor einiger Zeit das neue Mädchen zugeteilt worden, aber was aus der geworden ist, das weißt du ja selbst. Nun muss ich solange warten, bis der Rat ein neues Mädchen zu uns schickt, doch wer weiß, wann das sein wird.

Das Schlimme an der Geschichte ist, dass es in Hohedörp einen Jungen gibt der mir gut gefällt und der mich auch gerne leiden mag. Wir können aber nicht zusammenkommen, weil ich meine Bewährungszeit noch nicht hinter mir habe, und ich habe Angst davor, dass er sich doch nach einer anderen Braut umsehen könnte.“

„Wenn ich aus der Schule entlassen bin, kommt Monika zu euch, dann kannst du Deine Bewährungszeit hinter dich bringen.“ rief Fenna. „Davon wird wohl nichts werden, Fenna,  du wirst im April aus der Schule entlassen, und im gleichen Monat hat Monika ihre Zeit  bei uns um und wird uns alle verlassen, das war zwar gut gemeint von dir, aber leider klappt es nicht, ich werde wohl noch warten müssen.“

„Dann muss Monika einfach länger bleiben,“ meinte Fenna, „dann würde es doch klappen.“ „Aber Fenna,“ sagte Hanna, „du weißt doch, dass das nicht geht, wenn Monikas Jahr um ist, dann muss sie gehen, das war schon immer so.“

„Ich will aber nicht, dass Monika geht,“ sagte Fenna mit leiser Stimme, „warum kann sie denn nicht bei uns bleiben?“ „Weil es das noch nie gegeben hat, oder hast du schon mal von einem Mädchen gehört, dass nach ihrer Zeit bei uns geblieben ist?“

„Nein,“ antwortete Fenna traurig, „das stimmt wirklich, davon habe ich auch noch nie etwas gehört.“


Teil  38             Anja in Moorum 3

Sieben Frauen und Mädchen in Ketten, zweimal zu zweit und einmal zu dritt aneinandergeschlossen, kamen langsam daher, vier von ihnen schoben eine Karre, in der jeweils zwei, bzw. drei der Halseisenketten mit den Eisenkugeln lagen.

Allesamt waren sie in Lumpen gekleidet, ihre Haare hatten sie scheinbar seit Wochen nicht gewaschen, genau so wenig wie den Rest ihrer Körper. Schwankend vor Müdigkeit kamen sie langsam näher, das Klirren der Ketten spielte eine traurige Melodie dazu.

Da trat auch schon die Frau Bültena aus ihrer Hütte heraus. „Stehen bleiben!“ brüllte sie mit  lauter Stimme, die einem Feldwebel zur Ehre gereicht hätte.

Sie ging zu der Dreiergruppe, löste eines der Mädchen davon, ließ sie ihre Kugel aus der Karre nehmen  und zog sie zu Anja hin, um dort die Halskette des Mädchens an Anjas Halseisen zu verschließen.

Beide Mädchen hatten jetzt ihre Kugeln aufzunehmen und sich hinter der Gruppe einzuordnen. Ein scharfer Befehl von Bültena ließ die Mädchen sich wieder in Bewegung setzten, bei einer Hütte wurden die Karren abgestellt, die Eisenkugeln in die Hände genommen und die Gruppe betrat eine der Hütten.

Links und rechts in dem Raum standen mit Stroh gefüllte, flache Holzkisten, das waren die Betten, bei jedem dieser Betten stand ein Holzeimer mit einem Deckel darauf. In der Mitte befand sich ein langer Tisch, an beiden Seiten standen grob zusammengezimmerte Holzbänke ohne Rücklehnen. Außerdem gab es an der Stirnwand noch einen gusseisernen Ofen, ansonsten hingen noch drei Petroleumlampen von der Decke herunter, das war die gesamte Ausstattung.

Schweigend blieben die Mädchen hinter den Holzbänken stehen, erst als zwei ältere Frauen einen Topf und eine Schale auf den Tisch stellten und das Essen auf die Holzteller verteilt hatten, durften sie sich hinsetzen. Pro Person gab es zwei grüne Heringe, dazu reichlich Pellkartoffeln, aus den Krügen konnten sie sich selbst dünnen, ungesüßten Tee einschenken.

Während des Essens wurde kaum ein Wort gesprochen, dafür schienen alle viel zu müde zu sein. Anja hätte gern gewusst, was genau auf sie zukommen würde, doch traute sie sich nicht ein Gespräch anzufangen.

Nach dem Essen wurde gemeinschaftlich aufgestanden, die jeweils zu zweit aneinander geketteten Mädchen legten sich auf ihre Schlafplätze. Vor jedem der Schlafplätze lagen zwei Ketten, die an einem im Boden verankerten Eisenring befestigt waren. Kaum lagen die Mädchen, als die Bültena hereinkam und jedes Mädchen einzeln eine der Ketten an der Fußfessel befestigte.

Noch bevor sie alle Ketten angeschlossen hatte, kamen die beiden älteren Frauen wieder und holten das Geschirr ab, danach verließ auch Bültena die Hütte und verriegelte die dicke Holztür von außen.

Durch die kleinen, vergitterten Fenster fiel nur wenig Licht, doch es war noch hell genug, um etwas sehen zu können. Als Anja sah, dass sich einige der Mädchen leise unterhielten, traute sie sich ihre Kettengenossin anzusprechen: „Ich bin Anja, wie ist Dein Name?“ fragte sie leise. „Mein Name ist Ilona, aber hier bin ich Nummer 5,  pass auf, dass du in Gegenwart von der Bültena niemanden mit Namen ansprichst, das würde Ärger ohne Ende geben.“

„Du hör mal,“ sagte Anja, „ich muss mal ganz dringend pullern, wo kann ich denn hier?“ „Was glaubst du wohl, wofür die Holzeimer da sind?“ Anja wollte schnell aufstehen und sich auf den Eimer setzen, doch Ilona bremste sie ab: „Mach mal ein bisschen langsamer, schließlich muss ich mit aufstehen.“ Tatsächlich war die Kette ihrer Halseisen so kurz, dass wenn die Eine den Eimer benutzen wollte, die andere mit aufzustehen hatte.

Als sie sich wieder hingelegt hatten wollte sie von Ilona wissen, wie lange sie schon hier wäre und warum, ob schon jemanden die Flucht gelungen war, und wie überhaupt hier alles ablaufen würde.

Obwohl Ilona vor Müdigkeit die Augen schon fast zufielen erzählte sie  von dem Leben, das jetzt auf sie zukommen würde, und je mehr Anja hörte, um so banger wurde ihr.



Teil 39

Winter war es geworden im Land der alten Dörfer, es war eine trübe Jahreszeit, die einem auf das Gemüt schlagen konnte. Die einzige Abwechslung war das Weihnachtsfest, das Backen der Kekse und die Vorbereitungen für das Festessen vertrieben die Zeit. Ansonsten waren alle im Haus beschäftigt, jetzt war Zeit sich um Wäsche und Kleidung zu kümmern, während Eiso Wattjes kleinere Reparaturen an den Gebäuden und dem Arbeitsgerät erledigte.

Doch auch Januar und Februar gingen vorüber und im März gab es schon die ersten wärmeren Sonnenstrahlen. Es war am einem Dienstagmorgen, als eine Kutsche auf den Hof der Wattjes gefahren kam. „Das ist doch der Anwalt Meyerdirks!“ stellte Bauer Wattjes verwundert fest.

Meyerdirks kam mit ernstem Gesicht ins Haus, nach der Begrüßung forderte er die Eheleute Wattjes zu einem Gespräch unter 6 Augen auf. Die drei gingen in die gute Stube, während der Rest der Familie mit einem unguten Gefühl in der Küche blieb.

Nach wenigen Minuten kam Frau Wattjes in die Küche, nahm Monika in den Arm und führte sie zu den Männern in die Stube. „Es gibt schlechte Nachrichten für dich,“ sagte sie leise zu Monika, „Du musst jetzt tapfer sein.“

Monika setzte sich mit klopfenden Herzen auf einen Stuhl, während Meyerdirks sich räusperte und zu reden anfing: „Nun, meine liebe Monika, heute bin ich aus einem sehr unerfreulichen Grund hier, ja, in der Tat, sehr unerfreulichen Grund, denn ich habe dir eine sehr schlechte Nachricht zu überbringen.“

„Ja, es tut mir sehr leid dir sagen zu müssen, dass es einen schweren Unfall gegeben hat, von dem Deine Eltern betroffen worden sind. „Sind sie verletzt?“ wollte Monika wissen. „Viel schlimmer,“ sagte Meyerdirks, „sie sind bei dem Unfall ums Leben gekommen.“ Wie versteinert saß Monika auf dem Stuhl, im erstem Moment konnte sie noch nicht realisieren, was der Anwalt ihr gesagt hatte.

Die Eltern tot? Von einem Augenblick auf den anderen zur Vollwaise geworden? Was sollte jetzt passieren, hatte sie nun kein Zuhause mehr, wo sollte sie hin? Das waren die ersten Fragen, die ihr durch den Kopf gingen, langsam kam ihr Schmerz hoch, auch wenn sie in den letzten Jahren nicht den besten Kontakt zu ihren Eltern gehabt hatte, dieser Schicksalsschlag traf sie hart.

Ihre Augen wurden feucht, langsam stand sie auf und wandte sich zu Frau Wattjes. Die nahm sie in den Arm, mit einer Handbewegung schickte sie die beiden Männer aus dem Zimmer. Jetzt brach der Schmerz aus Monika heraus, weinend lag sie in den Armen der Bäuerin.

Nach einer ganzen Weile war der erste Schock vorüber,  Meyerdirks kam in die Stube zurück und hatte mit Monika zu reden. Er sagte ihr, dass die Beerdigung ihrer Eltern bereits in drei Tagen stattfinden würde, aus diesem Grund müsse sie sofort mit ihm kommen, damit er sie zu ihren Brüdern bringen könne, die sich weiter um sie kümmern würden.

Von Frau Wattjes und Fenna wurde sie in die Melkkammer gebracht, nach dem Auskleiden wurden ihr die Armreifen- und Fußreifen abgenommen, doch den Halsreif wollte sie gern umbehalten, den empfand sie als Schmuckstück und nicht als Strafe, auf war dieser Halsreif ja ein Geschenk der Schmiedeleute Düring.

Auf Anraten von Frau Wattjes behielt sie den Keuschheitsgürtel um, draußen in der großen Welt sei es viel zu gefährlich, da wäre es besser, wenn sie verschlossen blieb, doch sie wollte ihr für alle Fälle den Schlüssel zu dem Gürtel mitgeben.

Wenig später stand sie frisch gewaschen und mit ihrem besten Kleid angezogen in der Küche, eine Tasche mit ein paar Habseligkeiten war schon gepackt worden. Meyerdirks drängte zum Aufbruch, doch bevor Monika sich verabschiedete fragte sie den Anwalt, ob sie die Familie Wattjes wiedersehen würde.

Das konnte er ihr zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen, so wurde es auf beiden Seiten ein tränenreicher Abschied, am schlimmsten war es für Fenna, die in Monika eine Schwester gefunden hatte.

Still und in sich gekehrt saß Monika in der Kutsche, die schnell in Richtung Texlum fuhr. Dort angekommen ging es zu Fuß über den Deich, wo schon zwei Männer mit einem Ruderboot warteten. Meyerdirks und Monika stiegen in das Boot, die Männer schoben es vom Strand und ruderten mit kräftigen Schlägen auf die Tjalk zu, die sie vor fast einem Jahr hierher gebracht hatte.

Auf der Hinfahrt waren sie erst mit einem Kutter ausgelaufen, dann hatte man sie auf hoher See auf die Tjalk gebracht, doch diesmal fuhr die Tjalk direkt in den Hafen von Lauwersoog, von wo aus Meyerdirks sie selbst zu ihrer Heimatstadt fuhr. Obwohl der Anwalt sich an die Geschwindigkeitsvorschriften hielt hatte Monika das Gefühl in einem Geschoss zu sitzen, immerhin war sie schon fast ein Jahr lang nur zu Fuß gegangen oder Sonntags mit der Kutsche mitgefahren, an das Autofahren würde sie sich erst wieder gewöhnen müssen.

Unterwegs erzählte Meyerdirks ihr von seinem Dilemma, einerseits war ihr Aufenthalt im Land der alten Dörfer für ein Jahr im Voraus bezahlt worden, doch anderseits könne er ihr nicht verdenken, wenn sie nicht zurückgehen würde, schließlich wäre sie jetzt für ihr Leben selbst verantwortlich.

Er brachte Monika bis zu Haustür, gab ihr noch seine Visitenkarte und verabschiedete sich. Einen Haustürschlüssel hatte sie nicht mehr, also klingelte sie wie eine Fremde an der Tür ihres Elternhauses. Sie hörte Schritte und die Tür wurde von Knut, ihrem älteren Bruder, geöffnet.

Es war gab keine herzliche Begrüßung, sie hatte sich mit ihren Brüdern Knut und Erich noch nie gut verstanden. Stattdessen sagte er: „Wo hast du dich schon wieder herumgetrieben, es wird langsam Zeit, dass du hier erscheinst.“

Sie ging ins Wohnzimmer um den Rest der Familie zu begrüßen: Ihren Bruder Erich mit seiner Frau Sabrina und ihre Schwägerin Helga. Auch bei denen hielt sich die Freude über das Wiedersehen in Grenzen, im Gegenteil, ihre Schwägerinnen fingen gleich an zu lästern, was sie für seltsame Kleidung tragen würde, bestimmt wäre das wieder mal ein neuer Spleen von ihr. Ihre Brüder wollten wissen, wo um Himmels Willen sie die ganze Zeit über gewesen wäre, doch Monika meinte nur, dass sie auf dem Land gewesen wäre um zu arbeiten, vom Land der alten Dörfer würde sie ihrer Verwandtschaft bestimmt nichts erzählen.

Nachdem sie einmal durch das Haus gegangen war, ging sie in ihr Zimmer. Sie legte sich auf ihr Bett, sie hatte schon ganz vergessen, wie gut es sich auf einer Matratze liegen lässt. Dann schaute sie in die Kleiderschränke, um sich etwas passende Kleidung für die nächsten Tage herauszusuchen. Doch bevor sie sich umzog, gönnte sie sich noch einen lange vermissten Luxus: Sie ließ die Badewanne einlaufen, nahm reichlich von dem Badezusatz und genoss das frische, heiße Wasser, das sie nach einem Jahr endlich mal wieder für sich allein hatte.

Später ging sie zurück ins Wohnzimmer, wo ihre Brüder schon dabei waren die Papiere der Eltern zu durchforschen, schließlich wollten sie wissen, wie hoch ihr Erbe ausfallen würde. „Hat das nicht Zeit bis die Eltern beerdigt sind?“ wollte Monika wissen, doch es wurde ihr zu verstehen gegeben, dass sie sich da heraushalten solle.

Die Zeit bis zur Beerdigung verging für sie nur langsam, und irgendwie war sie erleichtert, als endlich alles vorbei war, denn nun konnte sie wieder nach vorne sehen. Als erstes würde sie sich wohl eine kleine Wohnung und einen Job besorgen müssen, denn die Brüder gaben ihr zu verstehen, dass das Elternhaus verkauft werden solle, man würde aber erst noch die Testamentseröffnung abwarten, solange könne sie hier wohnen bleiben.

Es waren schlimme Tage für Monika, das Zusammenleben mit ihren Brüdern und deren Frauen war für sie eine Strafe, vor allem nachdem sie einmal vergessen hatte vorm Duschen die Badezimmertür abzuschließen und ihre Schwägerin Helga sie in dem Keuschheitsgürtel gesehen hatte, jeden Tag konnte sie sich nun hämische Bemerkungen anhören.

Dann kam endlich der Tag der Testamentseröffnung, langsam verlas der Notar den letzten Willen der Eltern. Monika hatte überhaupt nicht richtig zugehört, erst als ihre Brüder und Schwägerinnen anfingen zu protestieren, konzentrierte sie sich auf die Ausführungen des Notars. Der erklärte das Testament noch mal in kurzen Worten: Das Vermögen ihrer Eltern war größer als sie das vermutet hätten, den Hauptanteil sollte Monika bekommen, weil die Söhne beide ein teures Studium und eine nicht unbeträchtliche Starthilfe für ihre Firmen von den Eltern bekommen hätten.

Ziemlich sauer verließ Monikas Verwandtschaft die Kanzlei, während sie sich noch mit dem Notar unterhielt, um sich noch mal nach den Einzelheiten zu erkundigen. Der erklärte ihr noch mal geduldig den Testamentsinhalt: Ab sofort könne sie über ein Konto mit einer Einlage von 40 000 Euro verfügen, außerdem würde sie durch eine Kapitalanlage der Eltern eine monatliche Zahlung von 1800 Euro erhalten, so dass sie den Rest ihres Lebens versorgt wäre.

Nachdem sie sich bei dem Notar bedankt hatte (gewohnheitsmäßig machte sie zur Überraschung des Notars einen Knicks), verließ auch sie die Kanzlei, setze sich in einem nahegelegenen Park auf eine Bank und dachte nach. Über zwei Stunden saß sie dort, betrachtete ihr Leben von allen Seiten, bis sie endlich eine Entscheidung getroffen hatte. Zum ersten Mal seit Tagen frohen Herzens stand sie auf, sie hatte ihre Entscheidung getroffen.

Sie ging zurück in das inzwischen verwaiste Elternhaus, nahm ein Branchenbuch und suchte eine Telefonnummer heraus, rief dort an, bekam die Auskunft die sie sich erhofft hatte und machte für den übernächsten Tag einen Termin ab.