Titel: Die wundersame Wandlung einer missratenen Tochter (Teil 96 - 104) Beitrag von: viper2606 am Mai 22, 2011, 05:37:10 pm Teil 96
Die Bültena gab Heinz einen Bund mit vier Schlüsseln in die Hand und trug ihm auf, die Gittertüren im Turm zu verschließen, was sie sonst bisher selbst gemacht hatte. „Bitte nicht, Frau Bültena, bitte schicken sie mich nicht nach oben, ich bin dort meines Lebens nicht mehr sicher.“ klagte Heinz, dem allein schon bei dem Gedanken daran das Herz in die Hose rutschte. „Was geht mich das an, du nichtsnutziger Bengel, du tust, was ich dir sage.“ In seiner Verzweiflung fiel er vor der verhassten Aufseherin auf die Knie und flehte sie mit vor Angst erfülltem Herzen an, ihn von dieser Aufgabe zu befreien. „Wenn du so viel Angst hast, dann nimm von mir aus die Hunde mit nach oben, aber abschließen wirst du die Türen, und wenn es das letzte ist, was du auf dieser Welt machst.“ Zwar hatte Heinz nicht mehr soviel Angst mehr vor den Hunden wie noch vor einiger Zeit, doch traute er den Bestien nicht über den Weg und hatte immer noch Angst, von ihnen angefallen zu werden. Aber welche Alternative hatte er? So rief er die Hunde zu sich: „Sarbas, Blexen, kommt hierher.“ Zu seiner großen Verwunderung gehorchten die Hunde seinem Befehl, standen auf und kamen zu ihm, wobei sie ihre Herrin allerdings etwas verwirrt ansahen, bisher durften sie noch nie auf den Befehl eines Kettenburschen reagieren. Doch als die Bültena ihnen noch beruhigend zusprach, folgten sie Heinz gehorsam in die oberen Turmzimmer. Kaum betrat er das erste Zimmer, als er von den anderen schon wieder beschimpft wurde, und prompt fielen Worte wie Verräter, Drecksau, Schweinehund und andere liebenswürdige Bezeichnungen. Zwei der Burschen kamen auf ihn zu, um ihm noch eine Tracht Prügel zu verpassen, doch hatten die nicht gesehen, dass die Hunde mit nach oben gekommen waren. Sie waren noch nicht mal in der Nähe von Heinz, als Sarbas und Blexen die Zähne fletschten und zu knurren anfingen, wobei sich ihr Nackenhaar sträubte. Mit einem Satz sprangen die Burschen zurück, auch der Rest der Kettenburschen versuchte soviel wie möglich Abstand zu den Hunden zu halten. Heinz durchströmten in diesem Augenblick mehrere Empfindungen: Erleichterung, Dankbarkeit, ein leichtes Machtgefühl, vor allem aber Sicherheit. Mit ungewohnt fester Stimme gab er seinen ersten Befehl: „Die oben wohnen gehen jetzt die Treppe hoch.“ Die vier Angesprochenen zögerten, wollten sie sich von ihm doch keine Befehle erteilen lassen, doch als sie sahen, dass er dem einen der Hunde ganz leise etwas sagte und Sarbas darauf hin anfing zu knurren, folgen sie seinem Befehl, wenn auch nur zögerlich. Kaum hatte der letzte der Vier die Treppe betreten, als Heinz es sich nicht verkneifen konnte zu rufen: „Nun macht mal ein bisschen zu, das dauert ja ewig mit euch.“ Wie auf ein Kommando blieben die vier Jungs stehen, das ging ihnen nun doch entschieden zu weit, aber Heinz, der Sarbas am Halsband festhielt, kam mit dem Hund zu der Treppe hin und brüllte: „Weitergehen, sonst hetz ich den Hund auf euch.“ Sarbas merkte sofort, dass Heinz Probleme hatte, fing wütend an zu bellen und wollte sich auf die Treppe stürzen. So schnell waren die Burschen die alte steinerne Turmtreppe noch nie hochgekommen, und dass trotz der schweren Eisenkugeln, die sie zu tragen hatten. „Schön aufpassen, Blexen, ich bin gleich wieder da.“ befahl Heinz dem anderen Hund, der nun knurrend bei der Tür saß, die aus dem Zimmer nach unten führte. So konnte der neugeborene Hilfsaufseher in aller Ruhe in das oberste Zimmer gehen, die Eisengittertür zuziehen und verschließen, worauf er zusammen mir Sarbas wieder hinunterging und die zweite Treppentür verschloss. Das gleiche Spiel wiederholte sich nun mit der ersten Turmkammer, und als er die letzte Eisengittertür gesichert und den Schlüssel an Bültena zurückgegeben hatte, beschäftige er sich ausgiebig mit den Hunden. Er holte frisches Wasser für sie, bürstete ihnen das Fell und kraulte sie den ganzen die ganze Zeit über. Erst als die Bültena ihm den Befehl gab sich schlafen zu legen, ließ er von den Hunden ab, die sich darauf hin auf ihren Schlafplatz verzogen. Für Heinz war es die erste Nacht im Land der alten Dörfer, in der er ruhig und mit schönen Träumen schlief, auf denn nun hatte er zumindest die Hunde als Freunde gewonnen, und die gaben ihm ein Gefühl der Sicherheit und nahmen ihm viel von seiner Angst. Noch bevor der nächste Morgen dämmerte wurde Heinz wach, obwohl er so gut wie schon lange nicht mehr geschlafen hatte, doch irgendetwas war anders als sonst. Er wollte sich gerade auf die andere Seite legen, doch da war ihm etwas im Weg: Hatten sich nicht die Hunde links und rechts von ihm hingelegt und teilten sein Lager! Ja, die Hunde beschützten ihn sogar im Schlaf, sie akzeptierten ihn zwar nicht als Herrn oder als Rudelführer, das blieb nach wie vor Frau Bültena, doch instinktiv hatten sie erkannt, dass dieser Mensch ihren Schutz brauchte, und beschützen liegt in der Natur der Schäferhunde, vor allem, wenn sie von dieser Person auch noch ihr Futter bekommen. Teil 97 „Oh, du meine Güte,“ rief Monika, „ich glaube, jetzt geht es los.“ Wie von einer Tarantel gestochen sprang Wilko vom Stuhl auf, rief ihr zu: „Bleib ganz ruhig, ich hol sofort die Hebamme.“ rannte planlos aus der Küchentür hinaus auf die Strasse, blieb stehen, fasste sich selbst an den Kopf und kam ebenso schnell wieder retour und hetzte in den Stall, um das Pferd herauszuholen und vor die Kutsche zu spannen. Kaum war die Kutsche fahrbereit, als er wieder in die Küche sauste um nach seiner Frau zu sehen. Die saß immer noch in Ruhe am Küchentisch, sah ihren verwirrten Gatten an und meinte: „Nun bleib mal ganz ruhig, das war ja nur die erste Wehe. Jetzt tu mir nur einen Gefallen und fahr nach Hohedörp und hol die Hebamme, aber lass dir um Himmels Willen Zeit und treib das Pferd nicht zuschanden. Wilko drehte auf dem Absatz um, hechtete zur Kutsche, sprang auf und ließ die Peitsche knallen. „Hü, du Mähre, lauf.“ und jagte das arme Pferd im Höllentempo die Dorfstrasse entlang. Währenddessen setzte die alte Frau de Fries einen großen Topf mit Wasser auf, schickte ihren Mann zu Wattjes hinüber und ließ ihn dort Bescheid sagen, dass die Niederkunft von Monika unmittelbar bevorstand. Kurze Zeit später kam Swantje Wattjes herüber, um Frau de Fries und Wilma zur Hand gehen zu können und Monika seelischen Beistand zu leisten. Noch nie war Wilko die Strecke nach Hohedörp so lang vorgekommen, aber endlich erreichte er sein Ziel, sprang aus der Kutsch heraus und klopfte wie ein Verrückter an der Haustür der Hebamme. Eliese Klumpenmoker hatte schon viele Kinder auf die Welt geholt, und übernervöse werdende Väter waren ihr ebenso vertraut wie verhasst, meinten die doch immer, dass ihre Frauen in den letzten Zügen liegen würden. „Na, Wilko de Fries, ist es bei deiner Monika nun so weit?“ fragte sie ihn. „Es kann jeden Augenblick losgehen, lassen sie uns sofort losfahren, es pressiert.“ drängte Wilko und konnte sich vor Ungeduld fast nicht zurückhalten, sich die Hebamme zu schnappen und in die Kutsche zu setzen. Nachdem Frau Klumpenmoker sich nach dem bisherigen Verlauf der Wehen erkundigt hatte, forderte sie Wilko auf, mit in die Küche zu kommen und sich zu ihrer Familie an den Tisch zu setzen, die gerade beim Teetrinken war. Selbstverständlich wurde dem Gast auch eine Tasse eingeschenkt, und obwohl Wilko in diesem Augenblick wirklich nicht nach Tee zumute war, blieb ihm nichts anderes übrig, alles mindestens 3 Tassen zu trinken. In seiner Panik stürzte er sich das heiße Getränk in den Rachen, was ihm sofort Brandblasen im Gaumen bescherte, was ihn aber im Augenblick nicht interessierte. Nach dem dritten Tee legte er schnell seinen Löffel in die Tasse, um nicht noch einmal nachgeschenkt zu bekommen und fragte sich verzweifelt, warum die Hebamme denn wohl noch nicht zur Abfahrt bereit wäre. Endlich hatte sie ihre Tasche gepackt und gab Wilko Bescheid, dass man nun losfahren könne. Der nahm ihr die Tasche ab, rannte zur Kutsche und stellte sie hinein und fragte sich verzweifelt, warum die Hebamme sich nicht etwas schneller bewegen würde. Kaum saß sie in der Kutsche, als er nach der Peitsche griff und das Pferd antreiben wollte. „Wilko de Fries, das will ich dir sagen, wenn du nicht vernünftig fährst, dann nehme ich dir die Zügel ab und fahre wieder nach Hause, denn ich habe nicht die geringste Lust, mit gebrochenem Hals im Straßengraben zu liegen, ist das klar?“ Eliese Klumpenmoker war als eine resolute Person bekannt, der man besser nicht widersprach, so blieb ihm nichts anderes übrig, als die Kutsche in einem vernünftigen Tempo nach Andersum zurückzulenken, auch wenn er aus Sorge um seine Frau während der Fahrt an die tausend Tode starb. Endlich kamen sie bei dem Hof an, in aller Ruhe stieg Eliese von der Kutsche herunter und bewegte sich langsam in Richtung Haus, was Wilko schon wieder an den Rand des Wahnsinns trieb. Nachdem er das Pferd abgespannt und gestriegelt hatte, wollte er nach dem Rechten sehen und ging in die Küche. Doch bevor er sich versah, hatten die Frauen ihn mit der Aufforderung, doch lieber bei Nachbar Wattjes im Haus zu warten, denn er würde ihnen nur im Weg stehen, schon wieder herausgeworfen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als zu seinem Schwiegervater zu gehen. Das Kettenmädchen machte ihnen Tee, der ihm heute aber nicht recht schmecken wollte, und nervös trommelte er mit den Fingern auf die Tischplatte. „Kann es sein, dass Du etwas nervös bist?“ fragte Wattjes seinen Schwiegersohn. „Ich doch nicht,“ gab der zurück und sah dabei zum hundersten Mal aus dem Fenster hinaus zu seinem Haus hin, ob sich da nicht endlich was bewegen würde. Mit ernsten Gesicht sagte Wattjes: „Sag mal, kennst du dich eigentlich mit kleinen Kindern aus?“ „Was soll es da groß zum Auskennen geben, ja sicher kenne ich mich mit kleinen Kindern aus.“ „Dann verrate mir doch mal, was ein Kind als erstes macht, wenn es auf die Welt kommt.“ „Luftholen natürlich, ist doch klar!“ „Falsch!“ sagte Wattes. „Na ja, dann eben Schreien.“ „Auch falsch!“ sagte sein Schwiegervater „Dann weiß ich es wirklich nicht, was macht denn nun ein Kind als erstes?“ „Platz für nächste Kind natürlich, was denn sonst! Ha, ha ha.“ prustete Wattjes und lachte dabei, dass ihm die Tränen die Wangen herunterliefen. Wilko hatte für die derben Scherze seines Schwiegervaters im Moment noch weniger Verständnis als sonst und wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als Wilma in die Küche kam und zu Wilko sagte: „Du kannst jetzt rüberkommen, Monika wartet auf dich.“ Ohne zu fragen ob alles klar gelaufen wäre stürmte er hinaus und rannte auf seinen Hof, wo ihm als erste die Hebamme über den Weg lief, doch noch bevor sie etwas sagen konnte, war er auch schon bei Monika, die ihn glücklich anlächelte und ihr erstes Kind in den Armen hielt. „Es ist eine Tochter, kerngesund und munter.“ sagte sie und vertraute dem jungen Vater das Kind an. Stolz betrachtete er den kleinen Wurm und meinte lächelnd: „Sie ist genau so schön wie ihre Mutter.“ und gab sie vorsichtig ihrer Mutter zurück, wobei er sich etwas ungeschickt anstellte. „Du tust ihr schon nicht weh, keine Angst.“ meinte Monika zu ihm. „Ich weiß, ich weiß, schließlich kenne ich mich mit kleinen Kindern aus." „Tatsächlich?“ fragte Monika verwundert, „das habe ich ja gar nicht gewusst, wer hat dir das denn beigebracht." „Och,“ grinste Wilko, „mein Schwiegervater hat mir da was erzählt.“ ging dabei aber nicht näher auf seine speziellen Kenntnisse ein. Teil 98 Der Sommer neigte sich seinem Ende zu, die meiste Arbeit auf den Feldern war getan. Das sahen natürlich auch die Kettenburschen, die sich schon darauf freuten, nicht mehr sechs Tage die Woche wie die Sklaven arbeiten zu müssen. Dann noch lieber in den stickigen Turmkammern herumhängen und die Zeit verstreichen lassen, auch wenn es sterbenslangweilig war. Der Bültena war es so ziemlich egal, ob die Burschen zum Arbeitseinsatz kamen oder im Turm saßen, solange Heinz sich um alles kümmerte und sie keine Arbeit damit hatte. Ja, sie würde es sich gerade im Winter richtig gemütlich machen, Brennholz für den Ofen hatte sie für ihren Raum genug, die Burschen würden sich wohl warme Gedanken machen müssen, denn sie hatte nicht die geringste Absicht, auch die oberen Kammern heizen zu lassen. Während sie am späten Nachmittag in solche Gedanken versunken in ihrem Lehnstuhl vor der Tür saß und Heinz bei der Arbeit zusah, hörte sie eine Kutsche kommen. Neugierig stand sie auf und fragte sich, um was für einen Besucher es sich wohl handeln könne und aus welchem Grund jemand die Fahrt zu dem Turm unternahm. Erst konnte sie nur erkennen, dass in der Kutsche vier Personen waren, doch als das Gefährt näher kam, beschlich sie ein leicht flaues Gefühl in der Magengegend, denn nun konnte sie den Pastor, den Bürgermeister sowie zwei Mitglieder des Gemeinderates erkennen. Immer wenn die Obrigkeit in der Vergangenheit zu ihr gekommen war, hatte es für sie Probleme gegeben, das letzte mal mit dieser Anja, die sie zu lange im Moor behalten hatte. Doch ihre trüben Gedanken konnten sie nicht davon abhalten, die Herren auf das Freundlichste zu begrüßen. Wie es nun mal Brauch war, bot sie den Gästen Tee an, was selbstverständlich angenommen wurde. Da es ein schöner Tag war, hatte Heinz die Tassen, Kluntje und Sahne auf den Tisch vor die Tür zu stellen, während Bültena die Herren aufforderte, auf den Bänken Platz zu nehmen. Doch die wollten sich, bevor es den Tee gab, erst einmal die verschiedenen Räumlichkeiten im Turm ansehen und stiegen die Treppen hoch. Beflissen wollte die Bültena vorausgehen, doch die Herren meinten, dass sie recht gut alleine klar kommen würden, und so blieb sie unten und überlegte krampfhaft, ob sie sich etwas zuschulden hatte kommen lassen. Da sie aber ein Gemüt wie ein Fleischerhund hatte und ein schlechtes Gewissen für sie ein Fremdwort war, setzte sie sich wieder hin und wartete in aller Ruhe ab, was die Herren denn nun eigentlich wollten. Sie wäre sicher nicht so ruhig geblieben, wenn sie den Rat auf der Besichtigungstour begleitet hätte, denn der war mit den vorgefundenen Räumen absolut nicht einverstanden. Nicht, dass an der Einrichtung, die nur aus provisorischen Betten und den Fäkalieneimern bestand, etwas auszusetzen gehabt hätten, doch das es trotz der geöffneten Schießschartenfenster so erbärmlich stank, dass sie sich ihre Taschentücher vor die Nasen halten mussten, erregte ihr Missfallen aufs äußerste, und als sie sich die Räumlichkeiten genauer ansahen, entdecken sie auch Ungeziefer: Kakerlaken, Silberfische und anderes Getier. Nachdem sie beide Turmzimmer einer genauen Inspektion unterzogen hatten, gingen sie wieder hinunter und stiegen in den Keller hinab. Dort roch es zwar muffig, doch war der Raum relativ sauber, worauf Bültena auch großen Wert legte, lagerte sie doch dort ihre privaten, besser gesagt: abgezweigten Lebensmittel. Mett- und Pümmelwürste sowie ein Räucherschinken hingen dort am Haken, aber auch zwei mit der Schlinge gefangene Wildkaninchen, obwohl das Fangen von Wild in dieser Jahreszeit streng verboten war. Auch gab es einen reichlichen Vorrat an Zucker, Mehl, Kluntje, Butter, eingelegten und eingekochten Früchten und Marmeladen. Dazu kamen dann noch Sachen wie Seife, Handtücher, Bekleidung, usw., alles Dinge, die den Burschen vorenthalten worden waren. Nun, die Herren nahmen das alles zur Kenntnis und begaben sich wieder nach oben, um erst einmal frische Luft zu schöpfen. Jetzt leisteten sie auch der Aufforderung zum Tee folge und setzten sich auf die Bank, vor dem ein roh behauener Tisch stand. Bültena holte den Trekkpott (Teekanne) höchstpersönlich aus der Küche und ließ es sich auch nicht nehmen, selbst den Tee einzuschenken, während sie Heinz den Auftrag gab, einen Imbiss zu richten. Doch angesichts der hygienischen Verhältnisse lehnten die Herren das Angebot zwar dankend, doch sehr bestimmend, ab. Noch während der Teetrinkens war von fern Kettengeklirre zu hören, die neun Kettenburschen wurden in den Turm zurückgebracht. Doch diesmal wurden sie nicht sofort in die Turmkammern hinaufgejagt, sondern hatten sich in einer Reihe aufzustellen, da der Rat die Burschen in Augenschein nehmen wollte. Der Rat brauchte nicht lange, um sich ein Urteil zu bilden, denn was da vor ihnen stand, waren keine Kettenburschen, sondern Gestalten des Jammers: Abgemagert und hohlwangig, einen impertinenten Gestank verbreitend, was auch kein Wunder war, trugen sie doch noch immer die gleiche Kluft wie bei ihrer Ankunft, und hatten bisher keine Erlaubnis gehabt, die Sachen einmal auszuziehen und zu waschen, außerdem konnten die Lumpen, die sie am Leib trugen, nicht mehr als Kleidung bezeichnet werden. Als sich dann bei näherer Untersuchung herausstellte, dass alle Burschen eiternde Stellen von Ungezieferbissen am Körper hatten und der Pastor auch noch Kopfläuse fand, war den Herren vom Rat klar, dass die Bültena nicht nur faul war, sondern sich auch noch bereichert hatte, und, was am allerschlimmsten war, sie hatte ihre Schutzbefohlenen aufs sträflichste vernachlässigt. „Meine Herren, ich denke, wir haben genug gesehen, lassen sie uns wieder zurückfahren.“ sagte der Bürgermeister und wandte sich an die Aufseherin: „Sie, Frau Bültena, werden in Kürze von uns hören, und das, was sie zu hören bekommen, wird ihnen bestimmt nicht gefallen, Guten Tag.“ Nach diesen Worten stiegen die vier Ratsherren in die Kutsche, der Bürgermeister ließ die Pferde antraben und lenkte sie zurück nach Hohedörp, eine Aufseherin zurücklassend, die die Welt nicht mehr verstand: „Warum war der Bürgermeister nur so unfreundlich zu ihr, sollte er mit irgendwas nicht zufrieden gewesen sein?“ Achselzuckend wandte sie sich von dem Anblick der davonfahrenden Kutsche ab und kümmerte sich wieder um ihre Arbeit, indem sie Heinz anfuhr: „Wieso hast du mein Essen noch nicht fertig, du nichtsnutziger Bengel, muss ich mich hier um alles alleine kümmern?“ Heinz verdoppelte sein Arbeitstempo und Bültena ließ sich erschöpft in ihren Lehnstuhl fallen, um sich von der Aufregung wieder zu erholen. Irgendwas hatte dem Rat wohl nicht gefallen, wenn sie auch nicht nachvollziehen konnte, was es auszusetzen gab, und was meinte der Bürgermeister nur mit dem Satz, dass ihr das, was sie zu hören bekommen sollte, nicht gefallen würde? Leicht, ganz leicht, machte sich ein ungutes Gefühl bei ihr bemerkbar, und je tiefer die Sonne am Horizont sank, um so mehr sank auch ihre Stimmung und sie fragte sich selbst immer wieder, was da wohl auf sie zukommen würde. Teil 99 Advokat Meyerdirks war mal wieder im Land, und sein erster Weg führte wie immer zum Bürgermeister. Der war hocherfreut, den Anwalt gerade jetzt im Land der alten Dörfer zu wissen, denn immer noch suchten der gesamte Rat eine Lösung für das Problem mit den Kettenburschen, auch war man sich noch nicht darüber einig, wie mit der Aufseherin am besten zu verfahren sei. Den ganzen Nachmittag verbrachten die beiden in der Küche des Bürgermeisters, so manche Idee wurde geboren und gleich darauf wieder verworfen. Es war schlichtweg zum Haare ausraufen, ihnen fiel einfach keine machbare Lösung ein, und doch war klar, dass die Zustände im Turm so schnell wie möglich geändert werden mussten. Erst gegen Abend verabschiedete sich Meyerdirks etwas frustriert von dem Bürgermeister, war es ihm doch mehr als unangenehm, die Sache mit den Kettenburschen nicht in den Griff bekommen zu haben. Nun machte er sich auf den Weg zum Schmiedemeister Düring, an den er eine etwas ungewöhnlich Bitte richten wollte. Dürings fühlte sich durch die Aufwartung des Advokaten auf Höchste geehrt, und für Janette, die natürlich auch mit am Küchentisch saß, war es ein besonderes Erlebnis, mit so einem Mann von Welt zusammensitzen zu dürfen. Selbstverständlich wurde sofort Tee aufgebrüht, und Frau Düring schenkte erst sich selbst, dann Janette, danach ihrem Mann und zum Schluss dem Herrn Advokaten ein. Obwohl es alle von ihnen schon Tausende Male gehört hatten, lauschten sie dem Knistern des Kluntes, als er im Tee versank. Keiner sagte ein Wort, und alle sahen sich die Wölkchen in der Tasse an, die sich durch die vorsichtig hereingelassene Sahne in der Teetasse bildeten. Bevor der Anwalt auf sein eigentliches Anliegen kam, wurden zuerst einmal die Neuigkeiten besprochen, wobei auch die Kettenburschen ein Thema waren. Meyerdirks erzählte, was ihm der Bürgermeister berichtet hatte, Dürings und Janette waren ehrlich erschrocken als sie hörten, wie die Bültena die Kettenburschen vernachlässigt hatte. Das war nicht die Art und Weise, wie dem Land der alten Dörfer anvertraute Menschen behandelt werden sollten, darüber waren sie sich sofort einig. Zwar wurden die jungen Leute, die zu ihnen gebracht wurden, nicht gerade zart angefasst und die meisten konnten sich nicht an die Keuschheitsgürtel und Ketten gewöhnen, doch Hunger und Misshandlungen waren Sachen, die alle auf das Strengste verurteilten. Dann kam Meyerdirks zur großen Freude von Janette auf Anteus Cirksena zu sprechen, was für ein gestandener Kerl er doch wäre und dass Janette und er doch wirklich ausgezeichnet zusammenpassen würden. Janette wurde ganz verlegen, freute sich aber sehr, dass ein so vornehmer Mann Anteil an ihrem Leben nahm. „Ja, Anteus und ich würden gern ein Paar werden, aber das ist nicht so einfach, Herr Anwalt.“ „Nanu,“ wunderte sich Meyerdirks, „ich dachte, ihr wärt Euch schon einig und würdet bald zum Altar schreiten.“ „Das würden wir ja auch gerne, aber von was sollen wir denn leben? Den Hof übernimmt sein älterer Bruder, wie es nun einmal Brauch ist, und Anteus hat immer in der Landwirtschaft gearbeitet und kein Handwerk gelernt, doch als Knecht verdient er nicht genug, um uns beide zu ernähren.“ „Hmm, das ist in der Tat ein großes Problem, ja, ein großes Problem.“ brummelte der Anwalt vor sich hin, dem so auf Schlag auch keine Lösung einfiel. „Was ihm fehlt, ist eine vernünftig bezahlte Arbeit, aber wo soll er die finden, hier im Land der alten Dörfer wird es schwierig werden.“ „Es ist schon eine verrückte Sache,“ gab nun Schmiedemeister Düring seinen Senf dazu, „da ist ein junger Kerl, stark wie ein Bär und kann keine Arbeit finden, doch auf der anderen Seite lebt die Bültena auf Kosten der Allgemeinheit wie eine Made im Speck, so was ist doch nun wirklich nicht richtig.“ Verwundert sah der Advokat den Schmiedemeister an und rief ganz begeistert: „Meister Düring, das ist doch die Lösung, damit ist uns allen geholfen.“ Schnell verstanden auch die anderen, Anteus könnte anstatt der Bültena die Betreuung der Kettenburschen übernehmen und hätte so ein sicheres Einkommen, dann würde einer Eheschließung zwischen Janette und Anteus auch nichts mehr im Wege stehen. Schnell wurde die kleine Runde sich darüber einig, nichts von dem Plan zu verraten, erst sollte Meyerdirks mit dem Rat sprechen und sehen, was der von dieser Lösung hielt. Vor lauter Begeisterung hätte der Anwalt fast sein Anliegen, wegen dem er überhaupt gekommen war, vergessen, doch nun kam er auf den eigentlichen Grund seines Besuches zu sprechen: „Meister Düring,“ sagte er, „ich hätte da ein etwas ungewöhnliches Anliegen an sie, doch vielleicht können sie mir helfen.“ Teil 100 Advokat Meyerdirks gab sich einen Ruck und erklärte dem Schmied sein Anliegen: „Nun, Meister Düring, es ist so, dass meine älteste Tochter ihre schulische Ausbildung beendet hat und in einiger Zeit ein Studium beginnen wird. Zu meinem Leidwesen ist das in unserer schönen Stadt Emden nicht möglich, und so wird sie nach Oldenburg gehen müssen.“ „Das arme Kind,“ fiel Frau Düring ihm ins Wort, „auf sich allein gestellt in einer großen, fremden Stadt, nein, da hätte ich keine Ruhe mehr.“ „So ist es in der Tat, werte Frau Düring, ihr wisst ja, wie verdorben die Menschen in den großen Städten sein können, und sicher könnt ihr es mir nachfühlen, dass ich mir um meine Tochter große Sorgen mache, denn wie schnell könnte es passieren, dass sie sich von irgendeinem Lüstling betören lässt und ihre Unschuld verliert. Das passt aber nicht zu unseren moralischen Wertvorstellungen und unserer streng christlichen Gesinnung. Aus diesem Grund haben meine Frau und ich uns überlegt, unsere Tochter sicherheitshalber in einen Keuschheitsgürtel zu verschließen, um sie so vor den weltlichen Versuchungen zu schützen und ihren guten Ruf zu wahren. „Wehret den Anfängen!“ rezitierte Meister Düring mit erhobenen Zeigefinger die Bibel und kam sich dabei äußerst gebildet vor. Meyerdirks ließ sich aber auch davon nicht aus dem Fahrwasser bringen und sprach weiter: „Nun ist meine Frage: Würdet Ihr meiner Tochter einen solchen Tugendwächter anpassen wollen, und wäre es möglich, einen besonders schön gearbeiteten Gürtel zu bekommen? Selbstverständlich würde ich für alle Kosten aufkommen, daran soll es nicht scheitern.“ „Das mache ich doch gerne für sie, Herr Meyerdirks, gleich morgen werde ich mich an die Arbeit machen, allerdings wäre es in diesem Fall notwendig, den Gürtel direkt anzupassen, weil es sich in diesem Fall ja um eine Extraanfertigung handelt.“ „Das ist genau der Punkt der mir Sorgen macht, denn wie ihr wisst, hat niemand freien Zutritt zu dem Land der alten Dörfer, und so müsste meiner Tochter der Keuschheitsgürtel außerhalb unserer Gemeinde angepasst werden, und darin sehe ich im Moment doch ein Problem, ja, in der Tat, ein Problem! Ratlos kratze sich Düring am Hinterkopf, das war mal wieder ein neues Problem, doch der Anwalt hatte recht, nur sehr wenige Außenstehende hatten das Recht, in das Land einreisen zu dürfen, und so sah er sich nicht in der Lage, dem Anwalt seinen Wunsch zu erfüllen. Es war Janette, die eine rettende Idee hatte: „Wenn die Tochter von dem Herrn Anwalt nicht zu uns kommen darf, müssen wir eben zu ihr gehen.“ „Daraus wird wohl nichts werden, wir gehen nie in die Welt, damit wird der Rat nicht einverstanden sein.“ gab Frau Düring zu bedenken. „Das ist mir ja auch klar,“ meinte Janette, „doch wie wäre es, wenn wir die fahrbare Feldschmiede auf die Tjalk bringen würden, dann könnte der Herr Meyerdirks mit einem anderen Schiff die Tjalk irgendwo treffen und wir seiner Tochter den Gürtel anpassen.“ Während sich Herr und Frau Düring zweifelnd ansahen, konnte sich Meyerdirks mit der Idee schnell anfreunden, was es allerdings notwendig machte, eine Sache, die er Frau Düring schon einmal angedeutet hatte, zu unterbreiten. „Nun,“ sagte Meyerdirks bedächtig, „diesen Vorschlag halte ich in der Tat für eine gute Idee, ja, in der Tat, für eine gute Idee. Denn ihr müsst wissen, dass sich die Tatsache, dass die Keuschheitsgürtel bei uns viel getragen werden, in der Welt bekannt geworden ist und ich schon manches Mal gefragt wurde, ob es nicht möglich wäre, so einen Tugendwächter zu beziehen. So gesehen würde sich der Aufwand, die Feldschmiede auf die Tjalk zu bringen, tatsächlich lohnen, in der Tat, tatsächlich lohnen.“ „Ich habe nie verstanden, dass die Leute in der Welt ohne Keuschheitsgürtel auskommen können,“ bemerkte Frau Düring, „wie wollen die denn Sitte und Moral ohne dieses vorzügliche Keuschheitsinstrument gewährleistet wissen?“ „So ist es, meine liebe Frau Düring, so ist es.“ gab der Advokat zurück, „doch allmählich gibt es auch in der Welt Menschen, denen das immer klarer wird und die nun ihre Kinder schützen und behüten wollen.“ „Das mag wohl alles sein,“ meinte der Schmiedemeister, der zwar schnell begriff, dass es sich bei dieser Angelegenheit um ein gutes Geschäft handeln könnte, trotzdem aber von der Aussicht, die Schmiedearbeiten auf einem Schiff zu erledigen, nicht gerade begeistert war, „nur ist es so, dass ich hier unabkömmlich bin und leider für die Arbeit auf dem Schiff nicht zur Verfügung stehen kann, so leid es mir tut.“ „Das ist aber wirklich sehr bedauerlich.“ meinte Meyerdirks, der sich genau wie die anderen am Tisch ein Grinsen verkneifen musste, denn es war allgemein bekannt, dass der Schmied, der das Land der alten Dörfer nur einmal in seinem Leben zur Ableistung seines Bewährungsjahres verlassen hatte, bei der Hinfahrt sowie auch bei der Rückfahrt über der Reling gehangen und pausenlos Neptun geopfert hatte, wovon er aber heute nichts mehr hören oder wissen wollte. Ebenso bekannt war auch, dass er hoch und heilig geschworen hatte, niemals mehr in seinem Leben die Planken eines Schiffes zu betreten. „Aber Meister,“ warf Janette ein, „das könnte ich doch übernehmen, zur Zeit haben wir doch nicht mehr so viel Arbeit wie sonst, im Moment brauchen wir noch nicht mal mehr für die Kettenmädchen- und Burschen vorzuarbeiten, alle haben ihren Schmuck angelegt bekommen und neue Zöglinge kommen doch erst, wenn die anderen wieder entlassen werden.“ „Nun, ja, also, äh, na ja, genaugenommen, wenn man die Sache richtig betrachtet, hast du durchaus recht, Janette, und ein gegen eine zusätzliche Einnahmequelle wäre durchaus nichts einzuwenden, aber ich meine, da gibt es noch viele Sachen zu bedenken, so einfach wird es alles nicht gehen.“ „Aber wir könnten es ja mal versuchen.“ meinte nun Frau Düring, die im Geist schon den zusätzlichen Verdienst vor sich sah. „Lasst es uns doch so machen,“ meinte Meyerdirks, „gleich morgen früh werde ich mit dem Rat sprechen. Als erstes werde ich ihm den Vorschlag machen, Anteus als neuen Aufseher einzusetzen, und dann werde ich sehen, ob ich den Rat nicht davon überzeugen kann, eine weitere Verdienstmöglichkeit zu schaffen, in dem wir die Keuschheitsgürtel auf der Tjalk verkaufen, immerhin hat Monika mit der Käserei es auch geschafft, mehr Geld in das Land der alten Dörfer zu bringen.“ Dieser Vorschlag wurde angenommen, denn ohne die Genehmigung des Rats wäre jede weitere Planung auch sinnlos gewesen, und so wurde noch eine letzte Tasse Tee getrunken, bevor der Anwalt sich verabschiedete. Etwas spät am nächsten Morgen, es war schon sieben Uhr durch, ging Meyerdirks wie versprochen zum Bürgermeister und unterbreitete ihm die beiden Vorschläge, einmal, dass Anteus Cirksena die Betreuung der Kettenburschen übernehmen sollte, zum anderen die Idee mit der Anfertigung von Keuschheitsgürteln auf der Tjalk. Über eine Stunde saßen die beiden Männer zusammen und besprachen die Angelegenheit, dann gab der Bürgermeister den Befehl, die Mitglieder des Rats zusammenzuholen, um die Sache im großen Kreis zu besprechen, aber auch nach Anteus wurde jemand geschickt, um ihn zu der Versammlung hinzu zu ziehen. Während sie noch auf das Eintreffen der Ratsmitglieder warteten, klopfte es an der Tür. „Herein!“ rief der Bürgermeister und Monika betrat das Zimmer. Nachdem Monika die beiden Herren respektvoll begrüßt hatte, wurde sie aufgefordert am Küchentisch Platz zu nehmen. Just hatte sie sich gesetzt, als auch die Frau Bürgermeisterin in die Küche kam und erst mal dafür sorgte, dass für den Besuch Tee angesetzt wurde. „Nun, Frau de Fries, was führt sie zu mir?“ wollte der Bürgermeister von dem ehemaligen Kettenmädchen wissen. „Ja, Herr Bürgermeister,“ erklärte Monika, „es ist einfach so, wir kommen mit der Kapazität der Käserei nicht mehr aus, es wird mehr Milch geliefert als wir verarbeiten können, und wir dürfen doch nicht nur die Milch von einigen verarbeiten, sondern müssen allen die Möglichkeit geben, mehr an der Milch zu verdienen.“ „Das ist wohl war!“ entgegnete der Bürgermeister, der gerne selbst noch mehr Milch zur Käserei geliefert hätte und somit großes Verständnis für diese Situation hatte. Auch der Advokat meldete sich zur dieser Angelegenheit zu Wort und sprach den Bürgermeister an: „Ich denke, es wäre sinnvoll, wenn Frau de Fries, vorausgesetzt natürlich, der Rat ist überhaupt einverstanden, sich eine neue Käsereieinrichtung selbst begutachten würde, schließlich handelt es sich dabei um eine nicht unerhebliche Investition.“ Noch ehe er eine Antwort bekommen konnte, kamen die ersten Ratsmitglieder ins Haus, Monika verabschiedete sich, während Meyerdirks sich zu den Ratsherren begab und sie begrüßte. Nach der offiziellen Eröffnung kam der Bürgermeister schnell auf den ersten Punkt: Sofortige Ablösung von der Bültena durch Anteus Cirksena, der damit dann die monatlichen Bezüge der Aufseherin beziehen würde. Einstimmung wurde dieser Vorschlag begrüßt, und der inzwischen eingetroffene Anteus gefragt, ob er bereit wäre, diesen nicht schlecht bezahlten Posten zu übernehmen. Der überlegte nicht lange, sondern war sofort einverstanden, jetzt war er nicht mehr auf den kargen Lohn eines Knechts angewiesen, sondern würde sein eigenes Einkommen haben, was ihm ermöglichte, Janette zu fragen, ob sie seine Frau werden wolle. Anteus bedankte sich für das ihm entgegengebrachte Vertrauen, versprach gute Arbeit zu leisten und ging zur Schmiede, um seiner Liebsten von der für ihn unverhofften Wendung zu berichten. Der Rat behandelte inzwischen den nächsten Punkt der Tagesordnung, schnell war man sich darüber einig, dass Bültena sich nicht nur am Allgemeingut bereichert hatte, sondern auch die ihr anvertrauten Kettenburschen mehr als nur schlecht behandelt hatte, keiner Bauer im Land der alten Dörfer würde sich erlauben, auch nur ein Schwein so schlecht zu behandeln. Scheinbar stand keiner der Ratsherren auf gutem Fuß mit der Bültena, denn die vom Pastor geforderte Maßnahme und Bestrafung fand allgemeinen Beifall und es wurde beschlossen, möglichst bald zur Tat zu schreiten. Die Sitzung wurde kurz gestört, Frau Bürgermeister stellte Kannen mit frisch gebrühtem Tee auf den Tisch, den die Herren nach dieser harten Sitzung gut gebrauchen konnten. Doch noch waren nicht alle Punkte erledigt, nun schnitt der Bürgermeister das Thema mit der Erweiterung der Käserei an. Was Wunder, dass die Ratsmitglieder schnell mit einer Vergrößerung einverstanden waren, denn bis auf einen waren sie doch alles Bauern, die von der Käserei profitierten. Auch gegen eine Reise in die Welt von Monika de Fries hatten sie nichts einzuwenden, hatte diese Frau die Käserei doch überhaupt erst eingeführt und bisher auf das Beste verwaltet. Glücklich und zufrieden, alle Angelegenheiten so schnell und reibungslos über die Bühne gebracht zu haben, standen die ersten Ratsherren schon auf und wollten den Raum verlassen, doch da meldete sich Anwalt Meyerdirks zu Wort. „Meine Herren, so leid es mir tut, eine Sache gäbe es da noch zu besprechen.“ Die Ratsherren sahen sich verwundert an, was um aller Welt gab es denn nun wieder für ein Problem, und außerdem war fast Mittag, da würde es nun wirklich Zeit, wieder nach Hause zu gehen. Doch der Advokat war eine Respektsperson, und so setzten die Herren sich wieder hin. Nun erzählte Meyerdirks dem Rat von der in der Welt bestehenden Nachfrage nach Keuschheitsgürteln, kam auf die Schwierigkeiten mit dem Betreten unbefugter Personen in das Land der alten Dörfer zu sprechen, erzählte ihnen von dem Vorschlag, sich eine zweite Tjalk zuzulegen und berichtete auch, dass Janette bereit wäre, die Schmiedearbeiten auf dem Schiff zu erledigen. Als der Anwalt geendet hatte, machte sich zuerst Schweigen am Tisch breit, doch dann hagelte es Proteste: Das wäre nun wirklich eine Risiko, eine weitere Tjalk käme viel zu teuer, die Sache würde sich nicht rechnen lassen, und überhaupt, sie wären Bauern und keine Schmiede oder Seeleute. Anwalt Meyerdirks kannte seine Leute, und so hatte er eine Expertise vorbereitet, die er nun dem Rat vorlegte. Als die Herren sahen, wie viel ein einziger Keuschheitsgürtel kosten sollte, lachten sie lauthals und konnten sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand nur für einen Tugendwächter so viel Geld ausgeben würde, doch schnell wurden sie von Meyerdirks eines besseren belehrt, der ihnen erzählte, was alleine er schon für einen Preis für den Keuschheitsgürtel, den seine Tochter tragen sollte, mit dem Schmied vereinbart hatte. Zwar war der Rat auch jetzt noch nicht vollkommen überzeugt, scheute vor allen Dingen die Kosten für die Tjalk, aber als ihnen klargemacht wurde, dass so ein Schiff jederzeit wieder zu verkaufen wäre und somit die ganze Sache risikolos wäre, fand der Plan schon eher ihre Zustimmung, und als sie dann noch hörten, wie viel der Schmied an Steuern in die Gemeindekassen abführen müsste, waren sie einverstanden, außerdem wurden sie jetzt aber mehr als dringend zu Hause zum Essen erwartet, was dann wohl wirklich den Ausschlag für die Zustimmung gab. Meyerdirks wurde dann von den Bürgermeisterleuten zum Essen eingeladen, was er dankbar annahm, denn seine feine Nase hatte ihm schon verraten, dass es heute Aalsuppe geben würde. Noch nicht einmal drei Tage später standen an einem Vormittag der gesamte Rat inklusive Anteus Cirksena vor dem Turm, um der Gerechtigkeit zu ihrem Lauf zu verhelfen, eine wichtige Person fehlte zwar noch, die war aber schon auf dem Weg und würde in Kürze eintreffen. Teil 101 Die Herren des Rats bauten sich in einer Reihe vor der Turmtür auf, der Bürgermeister klopfte energisch an die Tür und kurz darauf wurde ihnen von der Bültena geöffnet. „Was für eine Ehre, der gesamte Rat kommt auf einen Besuch zu mir.“ schleimte die Bültena und rief nach hinten: „Heinz, setz sofort Teewasser auf, hoher Besuch ist gekommen.“ Nicht nur der Bürgermeister, nein, der gesamte Rat sah sie mit finsteren Blicken an, die zu fühlende Feindseeligkeit gegenüber der Aufseherin war fast körperlich zu spüren. „Wir sine nicht zum Teetrinken oder auf einen Plausch hierher gekommen, Esmiralda Bültena, sondern um euch für die Schandtaten, die ihr begangen habt, zur Verantwortung zu ziehen.“ sagte der Bürgermeister barsch. „Meiner Treu, Herr Bürgermeister, von welchen Schandtaten sprecht ihr nur, ich habe nur immer meine Pflicht getan und mir nie etwas zu Schulden kommen lassen.“ „Das sehen der Rat und ich aber von ganz einer anderen Seite,“ erwiderte der Bürgermeister, der zur seiner großen Befriedigung das sich nahende Rumpeln von Pferdefuhrwerken hören konnte. „Ihr guten Herren, ich weiß wirklich nicht, warum ihr mich so böse anseht, habe ich denn in irgendeiner Weise euer Missfallen erregt?“ „Unterschlagung von Lebensmitteln und Kleidung für die Kettenburschen, Verwahrlosung und Schlamperei, schamlose Bereicherung, das sind die Punkte, derer ihr euch schuldig gemacht habt, Esmiralda Bültena, schmählich habt ihr das in euch gesetzte Vertrauen missbraucht, was das ganze Land der alten Dörfer in euch gesetzt hatte.“ rief der Pastor empört. „Das ist doch nicht wahr,“ entgegnete die Bültena, „immer bin ich dazu angehalten worden so sparsam wie möglich zu wirtschaften, was ich ja auch gemacht habe, und genau das will man mir jetzt als ein Vergehen vorwerfen?“ „Und wieso hortet ihr im Keller Mettwürste, Schinken, Käse und Butter, eingelegte Gurken, Schnippelbohnen und andere Sachen, und wieso habt ihr haufenweise Seife und Kleidung für die Burschen dort liegen, ja noch nicht einmal die Wolldecken habt ihr herausgegeben, was seid ihr eigentlich für ein Mensch?“ fragte der Bürgermeister ziemlich sauer, dem das Gehabe der Aufseherin nun wirklich gegen den Strich ging. Die Bültena sah von einem zum anderen, jetzt merkte sie, dass die Sache bitterernst und höchstgefährlich wurde, versuchte aber immer noch, das Beste aus der Sache zu machen. „Das sind nur Vorräte für schlechte Zeiten.“ versuchte sie sich aus der Affäre zu ziehen, doch diese verlogene Antwort ließ sie nur noch mehr in Ungnade fallen. „Bringt die Kettenburschen hierher!“ befahl der Bürgermeister, und zum ersten Mal seit langer Zeit stieg sie selbst die Treppen hoch, um die Gittertüren zu öffnen. „Seht zu, dass ihr nach unten kommt, und höre ich ein falsches Wort von euch, werdet ihr es noch bitter bereuen, das schwöre ich.“ fauchte sie die Burschen an. Sie scheuchte die Burschen die Treppen hinunter und jagte sie vor die Tür. Dort waren inzwischen 3 Fuhrwerke angekommen, zwei leere Ackerwagen und die fahrbare Feldschmiede von Meister Düring. Die Männer, die mit den Ackerwagen gekommen waren, bekamen sogleich den Befehl, sämtliche Vorräte aus dem Turmkeller auf den einen der Wagen zu schaffen, während Düring anfing, seine Feldschmiede aufzubauen und anzuheizen. Es war kaum zu glauben, was aus dem Keller alles zum Vorschein kam, der Ackerwagen füllte sich immer mehr. Während der Bültena bei dem Anblick das heulende Elend überkam, staunten die Ratsherren nicht schlecht, was diese Frau alles zusammengetragen hatte, während die Kettenburschen voller Verlangen und Heißhunger auf die Lebensmittel blickten, die ihnen vorenthalten worden waren. Nachdem der Keller ausgeräumt war, sah sich der Rat noch einmal die Kettenburschen genauer an, tatsächlich waren sie verdreckt, verlaust und unterernährt, die Kleidung bestand nur noch aus Lumpen und sie gaben einen Gestank von sich, der nicht auszuhalten war. Der Bürgermeister ging mit dem Rat zur Seite und flüsternd unterhielten die Herren sich. Schon nach wenigen Minuten nickten sie alle mit den Köpfen und kamen zu dem Turm zurück, wo der Bürgermeister das Wort ergriff. „Esmiralda Bültena, ihr habt das in euch gesetzte Vertrauen auf das Schändlichste missbraucht und euch nicht nur bereichert, sondern diese Burschen schlechter als Vieh behandelt. Aus diesem Grund hat der Rat beschlossen, euch eures Postens zu entheben und einer gerechten Bestrafung zuzuführen. Während er nun das einstimmig beschlossene Urteil verlas, blickte Bültena den Rat mit ungläubigen Augen an. Mit zittrigen Knien ließ sie sich auf die Bank fallen und keuchte entsetzt: „Das könnt ihr doch nicht im Ernst meinen, das dürft ihr nicht machen.“ doch an den verschlossenen Gesichtern der Männer konnte sie erkennen, dass es bitterer Ernst war. 102 Doch, der Rat meinte es wirklich ernst mit seinem Urteil, eine Frau wie die Bültena gehörte nicht in das Land der alten Dörfer und war ab sofort geächtet. Da es in diesem Land kein Gefängnis gab, hatte der Rat beschlossen, Esmiralda Bültena bis zum Ende ihres Lebens in den alten Wehrturm zu verbannen. Nun war der Schmied an der Reihe, seinen Teil zur Bestrafung der ehemaligen Aufseherin zu leisten. Sobald die Kohlen in der Esse heiß genug waren, forderte er Bültena auf, zu ihm an die Feldschmiede zu kommen, um sich in Eisen legen zu lassen. Die weigerte sich energisch, der Aufforderung Folge zu leisten, und wie nun der Schmied und Anteus Cirksena auf sie zugingen, um sie mit Gewalt zur Feldschmiede zu bringen, rief sie ihre Schäferhunde zu sich. „Blexen, Sarbas, hierher zu mir!“ Die Hunde stürmten zu ihr hin, und kaum machten Düring und Anteus noch einen Schritt auf die Bültena zu, fingen die beiden Bestien an die Zähne zu fletschen und zu knurren. Mit diesem Widerstand hatten die beiden nicht gerechnet und machten langsame Schritte nach hinten, um nicht von den Hunden angefallen zu werden. Der Rat sah sich vor ein ungeahntes Problem gestellt, dass er so nicht zu lösen wusste, doch waren es die Kettenburschen, die den Lauf der Gerechtigkeit aufgehalten sahen und sich doch nichts mehr wünschten, als das die verhasste Aufseherin für das, was sie ihnen angetan hatte, bestraft werden würde. „Grundgütiger Gott, nun haben wir aber ein Problem.“ rief der Pastor, „was machen wir denn jetzt?“ Darauf konnte ihm keiner der Ratsherren eine Antwort geben, denn die Hunde machten ihnen doch mehr den Eindruck von wilden Wölfen als von Schäferhunden und keiner von ihnen wollte das Risiko eingehen, von einem der Tiere angefallen zu werden. Da meldete sich Werner ganz zaghaft, indem er wie früher in der Schule die Hand noch oben hielt. „Was willst du?“ fragte der Bürgermeister. „Entschuldigen sie bitte, aber wenn sie die Hunde aus dem Weg haben wollen, gäbe es eine Möglichkeit.“ „Ach ja, willst du dich um die Hunde kümmern?“ wollte der Bürgermeister von ihm wissen. „Nein, nein“, wehrte Werner sofort ab, „aber Heinz wird mit den Kötern fertig.“ „Wer ist Heinz?“ „Der Vertraute von der Frau Bültena.“ „Nun sieh mal einer an, der Vertraute von der Bültena, das wird ja immer schöner hier! Wer von euch ist denn dieser Heinz?“ „Ich, Herr Bürgermeister“, meldete Heinz sich mit Angstschweiß auf der Stirn zu Wort und kam aus der Turmstube heraus, wo er sich bisher unbemerkt aufgehalten hatte. Tatsächlich hatte sich bisher keiner die Mühe gemacht und nachgezählt, ob auch wirklich alle Kettenburschen vor den Turm gebracht worden waren, und so war die Verwunderung über die eigene Nachlässigkeit doch recht groß. „Hören die Hunde auf dich, hören sie auf dich mehr als auf ihre Herrin?“ wollte der Bürgermeister wissen. „Ich glaube schon.“ gab Heinz vorsichtig zur Antwort. „Dann ruf die Hunde zu dir und leg sie an die Leine.“ forderte der Bürgermeister ihn auf. „Einen kleinen Moment noch, bitte, ich bin sofort wieder da.“ sagte Heinz und ging in das Turmzimmer, um gleich darauf mit zwei Fleischknochen zurück zu kommen. „Sarbas, Blexen, hierher zu mir.“ rief er den Hunden zu, die jetzt sichtlich verwirrt waren. Einerseits hatten sie ihre Herrin zu verteidigen, auf der anderen Seite war da dieser Bursche, der für ihr Fressen sorgte, sie bürstete und neben dem sie jede Nacht schliefen. Nach kurzem Zögern der Tiere siegte ihr Selbsterhaltungstrieb, und so liefen sie auf Heinz zu, um sich von ihm die Knochen geben und sich von ihm an die Leine legen zu lassen. Esmiralda Bültena, die bis dahin noch selbstsicher gegrinst hatte, fiel schlagartig die Kinnlade herunter, doch am Ende war sie noch lange nicht. Sie suchte ihr Heil in der Flucht und wollte durch die Linie der nebeneinander stehenden Kettenburschen hindurchbrechen, die aber waren sich auf Schlag einig und vereitelten die Flucht. Nun hatten Düring und Anteus leichtes Spiel, sich der ehemaligen Aufseherin zu bemächtigen und ihr die Hände auf dem Rücken zusammenzubinden. Während sie die Bültena zur Feldschmiede führten, hatte Janette, deren Anwesenheit in diesem Fall unerlässlich war, bereits ein passendes Halseisen herausgesucht, das der sich immer noch wehrenden Bültena um den Hals geschmiedet wurde. Schnell bekam sie auch Fußfesseln mit einer kurzen Kette dazwischen angelegt, ebenso schnell war auch eine Eisenkugel an der kurzen Fußkette befestigt. Etwas schwierig wurde es, als ihr die Handfesseln angelegt werden sollten, da man ihr dafür die Hände hinter dem Rücken losbinden musste. Sie wollte dann auch gleich anfangen auf die Schmiedeleute loszuprügeln, doch Anteus hatte kein Problem damit, sie in jeder gewünschten Lage festzuhalten. So wurden ihr dann auch die Armreifen fest angeschmiedet, und die Kette, die ihre Armreifen verband, vorher noch durch den Ring des Halseisens gezogen. Zu guter Letzt wurde ihr noch eine Laufkette angelegt, die so lang war, dass sie alle Räume im Turm erreichen konnte. Das Ende dieser Kette wurde von Meister Düring so gut befestigt, dass noch nicht einmal ein Elefant sich hätte losreißen können. Jetzt war Janette an der Reihe, ihre Arbeit zu erledigen. Aus der Werkstatt hatte sie einen schweren Keuschheitsgürtel mitgebracht, den sie jetzt aus der Feldschmiede holte und der Bültena anlegen wollte. Doch die wehrte sich trotz ihrer Eisenfesseln mit Händen und Füssen, so das nichts anderes übrig blieb, als ihr noch mal die Hände auf den Rücken zu fesseln. Nachdem sie in den Turm verbracht und die Tür geschlossen worden war, sagte Janette zu ihr: „Wenn du mir jetzt noch einmal Schwierigkeiten machst, lasse ich Anteus Cirksena hereinkommen, der mir dann zur Hand gehen wird.“ Das wollte sie auf jeden Fall vermeiden, und so ließ sie sich zähneknirschend den Tugendwächter anlegen. Fast wäre Bültena von dem Gürtel verschont geblieben, denn nur mit Mühe und Not gelang es Janette, den Taillengurt zu schließen, doch schließlich rastete der Gurt auf der weitesten Stufe ein und sie konnte das Schloss anbringen. „Der ist doch viel zu eng, du dusselige Kuh!“ brüllte die ehemalige Aufseherin, was ihr eine schallende Ohrfeige von Janette einbrachte. Nachdem Janette ihr die Hände wieder befreit hatte, ließ sie die Gefangene stehen und ging zu den anderen vor dem Turm. Bültena nutzte die Zeit um nachzusehen, was ihr an Proviant übrig geblieben war, doch aus Graupen, Zwiebeln, altem Brot und schon angegammelten Kartoffeln konnte sie nichts finden. Während die Bültena sich nun in wüsten Beschimpfungen erging, wurden die Kettenburschen auf den eines der Fuhrwerke verladen, außer Heinz, der mit den Hunden an der Leine dem Wagen hinterher zu laufen hatte. Die Burschen freuten sich über alle Maßen, der Schikane durch die Aufseherin entkommen zu sein und sahen wieder Licht am Ende des Tunnels, sie wussten zwar nicht, was man mit ihnen vorhatte, doch schlimmer als im Turm gewesen war würde es wohl nicht werden können. Der einzige, dem vor der nächsten Zeit graute, war Heinz, der die Rache seiner Mitgefangen fürchtete. Endlich setzte sich der Konvoi in Bewegung, vorweg die Ratsherren in den Kutschen, dann der Wagen mit den Vorräten, dahinter Meister Düring mit seiner Feldschmiede und zum Schluss das Fuhrwerk mit den Burschen darauf, am Ende Heinz mit Sarbas und Blexen an der Leine. Hinter Heinz waren nur noch 2 Reiter auf ihren Pferden, die ein wachsames Auge auf die Burschen hielten. So zogen sie langsam durch das Land der alten Dörfer, dem neuen Bestimmungsort der Kettenburschen entgegen. Teil 103 Der erste Teil des Weges führte nach Hohedörp, dort trennten sich die Ratsherren von dem Transport, auch Schmiedemeister Düring ging in seine Werkstatt zurück, doch Janette übernahm die fahrbare Feldschmiede. Während sich die Begleitpersonen mit belegten Broten und heißem Tee stärkten, sahen die Burschen mit knurrenden Mägen neidvoll zu. Zwar erregte das heruntergekommene Aussehen wohl etwas Mitleid bei den Frauen, die den Männern die Stärkung brachten, doch hatten sie keine Order bekommen, auch die Burschen zu versorgen und so gingen die Gefangenen leer aus bis auf einen Eimer Wasser mit einer Kelle darin, aus der sie dann nacheinander ihren Durst löschen konnten. Endlich ging die Fahrt weiter, langsam aber stetig nährte man sich dem Ziel. Die Gegend wurde immer kahler, einsam und verlassen. Hier wuchsen nicht einmal mehr Bäume, nur ein paar Sträucher sahen sie am Wegesrand. Dann war von fern ein Dorf zu sehen, und als sie langsam näher kamen meinte einer der Burschen namens Torsten leise zu den anderen: „Das muss dieses Dorf Moorum sein, jetzt weiß ich, was auf uns zukommt.“ Die anderen sahen ihn verständnislos und fragend an, und so sprach er flüsternd weiter: „Nach diesem Ort kommt nur noch ein schmaler Knüppeldamm durch ein Moor, und am Ende des Weges liegt eine Torfabbaustelle, die früher eine Art Straflager für die Kettenmädchen war.“ „Woher willst du das denn wissen, du Klugscheißer?“ fragte Werner. „Du kannst Heinz ja mal fragen, der hat mir gesagt, was die Bültena ihm erzählt hat.“ „Straflager, na Klasse, vom Regen in die Traufe!“ meinte niedergeschlagen einer der Burschen. „Was soll’s,“ meinte Werner, „jedenfalls sind wir die Bültena los, und schlechter als im Turm kann es dort auch nicht werden.“ „Es gibt noch einen großen Vorteil,“ gab Torsten sein Wissen preis, „dieses Moor liegt dicht an der Grenze vom Land der alten Dörfer, wenn es überhaupt möglich ist von hier zu entkommen, dann von dieser Stelle aus.“ Nachdenkliches Schweigen machte sich unter den Burschen breit, jeder hing seinen eigenen Gedanken über eine Flucht nach, und es war keiner dabei, der nicht über eine Flucht nachdachte. Die drei Fuhrwerke rumpelten über die schlechte Strasse in den Ort Moorum hinein, die Burschen sagten nichts mehr und sahen sich nur um. Hier standen nur kleine Häuser, einfach und primitiv gebaut, auch die wenigen Menschen, die sie sahen, machten keinen besonders glücklichen Eindruck. Wenn es hier schon so erbärmlich aussah, was würde sie dann erst im Moor erwarten? So waren ihre Gedanken, als die Kutscher die Pferde zum Stehen brachten und die Burchen den Befehl bekamen von dem Fuhrwerk abzusteigen. Sie standen vor der Hütte, in der auch Anja schon eine schlimme Nacht verbracht hatte, aber im Gegensatz zu Anja wurden sie nicht gleich in die Hütte gebracht, sondern hatten sie vor der Tür auf die Erde zu setzen. In der Zwischenzeit hatte Janette in der Nähe einer Scheune die Feldschmiede aufgebaut, heiße Kohlen wurden ihr aus einem der Häuser gebracht und nach kurzer Zeit war die Esse betriebsbereit. Jetzt wurden die ersten zwei der Kettenburschen weggeführt, mussten in die Scheune, bei der die Feldschmiede stand, hineingehen, dort wartete Janette bereits auf die Burschen. Beide Jungs wurde an dem Halseisen eine längere Kette befestigt, danach riss Janette ihnen die Lumpen vom Leib und befreite sie von den Keuschheitsgürteln. Die Burschen konnten ihr Glück gar nicht fassen, endlich waren sie nach so langer Zeit zum ersten Mal die verhassten Keuschheitsgürtel los. Oh, was war das für ein herrliches Gefühl, und beide konnten es nicht bleiben lassen, Hand an ihr Gemächt zu legen. „Die Hände auf den Rücken, aber sofort!“ befahl ihnen die Stimme von Anteus Cirksena, der seine Braut bei der Arbeit unterstützte. Vollkommen eingeschüchtert gehorchten sie sofort der Aufforderung, und nur Sekunden später waren ihre Arme auf dem Rücken gefesselt. „Du bist als erster dran!“ bestimmte Anteus, der neue Aufseher, und drückte den einen der Burschen auf einen Hocker. Dem wurde Angst und Bange, konnte sich der arme Kerl doch nicht vorstellen, was nun mit ihm passieren würde. Ehe er sich versah, wurde er von sämtlichen Körperhaaren befreit, anschließend musste er sich in einen hölzernern Trog setzen, der mit einer stark übelriechenden Flüssigkeit gefüllt war. Das Gute an der Flüssigkeit war, dass sie eine durchaus angenehme Temperatur hatte, doch schon nach kurzer Zeit in dem Bad find die Haut an zu jucken. Wie der Bursche nun meinte, den Juckreiz nicht mehr aushalten zu können, durfte er aus dem Trog heraussteigen und sich in eine mit Wasser gefüllte Zinkwanne legen. Auch hier war die Temperatur durchaus angenehm, doch schon nach wenigen Minuten musste er die Wanne verlassen. Nackt, aber zumindest mit gereinigtem und wenn auch haarlosem Körper stand er in der Scheune, fühlte sich trotz der auf dem Rücken zusammengebundenen Hände endlich mal wieder sauber und als Mensch, als Janette auf ich zukam und mit einer Schnur die Weite seiner Taille nahm. Nur Minuten später kam sie mit einem passenden Keuschheitsgürtel, der auch wieder mit einem Stachelbehältnis für den Freudenspender versehen war, wieder zurück. Nun folgte die gleiche Prozedur wie bei der Einlieferung in das Land der alten Dörfer: Janette nahm reichlich Pferdesalbe in die Hand und bestrich damit die Körperteile, die gleich wieder von Eisen umschlossen sein würden. Zwar zuckte der Bursche bei der Behandlung zusammen, aber auf solche Kleinigkeiten hatte Janette noch nie Rücksicht genommen. „Beine breit machen!“ sagte sie nur, und schon bekam der Bursche eine geballte Ladung der hervorragenden Pferdesalbe an seine intimsten Stellen geklatscht. Darauf hin wurde ihm sofort ein jetzt wieder genau passender Keuschheitsgürtel umgelegt, der mit einem schweren Schloss gesichert wurde. Nun hatte der Rat beschlossen, in Zukunft bei den Kettenburschen auch verstärkt auf saubere Kleidung zu achten, aber das Wechseln der Kleidung bei angelegten Hand- und Fußfesseln war doch sehr umständlich. So kamen die Frauen auf die Idee, den Burschen eine Art Sack zu nähen, der auf den Schultern geknöpft werden konnte. Die Begeisterung über dieses neue Kleidungsstück hielt sich absolut in Grenzen, doch was blieb dem Burschen anderes übrig als zu gehorchen? Teil 104 Als der erste gewaschene, entlauste, kahlgeschorene und in eine Art Sack gekleidete Kettenbursche zu seinen Kameraden zurückgebracht wurde, konnten die sich bei dem Anblick ihres Leidensgenossen vor Lachen nicht halten. Zugegebenerweise sah er auch wirklich bescheuert aus, durch die geschorenen Haare kamen seine Segelohren richtig zur Geltung und seine neue Bekleidung machte einen ziemlich lächerlichen Eindruck. Noch während die anderen lauthals lachten und ihre mehr als gemeinen Kommentare abgaben, brüllte der Bursche zurück.: „Lacht nur, ihr Idioten, aber was glaubt ihr wohl, wie ihr gleich aussehen werdet!“ „Ruhe hier und ab in die Hütte.“ kam der Befehl eines Aufsehers, und so suchte er sich einen Platz in dem Raum aus. Es dauerte nicht lange bis er Gesellschaft bekam, der zweite der Burschen war gerade mit seiner Behandlung fertig geworden und ebenfalls in die Hütte geschickt worden. Diesmal war es der Erstbehandelte, der sich bei dem ungewohnten Anblick seines Kameraden ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Nach und nach füllte sich der Raum, jeder Neuankömmling bekam den gutmütigen Spott der Kameraden zu hören, aber da sie alle im gleichen Boot saßen, nahm es auch keiner übel. Zumindest wurden sie jetzt nicht mehr von Läusen und anderem Ungeziefer gequält, auch war es ein gutes Gefühl, wieder einmal gewaschen und sauber zu sein, solange sie bisher im Land der alten Dörfer waren, hatten sie dieses Gefühl nicht mehr erleben dürfen. Als letzter wurde Heinz, der vorher die Hunde in einer naheliegenden Scheune hatte anbinden müssen, der allgemeinen Reinigungsbehandlung unterzogen. Verständlicherweise hatte er eine Todesangst, auch in den Raum eingesperrt zu werden, wo die anderen Kettenburschen saßen. Doch das Risiko ging Anteus Cirksena, der neue Aufseher, nicht ein und so wurde er in die Scheune zu den Hunden gebracht und dort angekettet. In der Hütte saßen die Burschen auf dem Stroh, strichen sich selbst immer wieder über die eigene, ungewohnte Glatze oder versuchten, die Position der jetzt wieder stramm anliegenden Keuschheitsgürtel zu ändern, um etwas gemütlicher sitzen zu können. Doch Janette hatte ganze Arbeit geleistet, die Tugendwächter saßen so genau an den Körpern, dass die Burschen die Bemühungen schon bald aufgaben. Noch während die Kettenburschen sich leise über ihre Zukunft unterhielten, betraten drei Frauen den Raum. Die eine brachte einen Stapel Schalen und Holzlöffel, die anderen einen großen Topf mit Steckrübeneintopf. Nachdem sie die Sachen in der Mitte des Raumes abgestellt hatten, verließen sie die Hütte wieder und verschlossen die Tür von außen. Der Eintopf roch hervorragend, und genau so sah er auch aus, denn außer den Steckrüben war noch frisches Gemüse wie Zwiebeln, Karotten, Lauch, Sellerie und reichlich Nackenfleisch mitgekocht worden. Was für ein Festmahl, die Burschen hauten sich die Wampe voll bis nichts mehr hineinging und tatsächlich schafften sie es, den Topf ratzekahl leer zu machen. Kurz darauf kamen die Frauen wieder, um den Topf und die Schalen und Löffel abzuholen. Die Burschen lagen bewegungslos auf dem Stroh und hielten sie die Bäuche fest, da gab es nicht einen, der von der ungewohnt guten und reichlichen Mahlzeit Bauchschmerzen hatte. Dazu kam auch noch, dass die jetzt wieder eng sitzenden Keuschheitsgürtel sich spürbar durch Kneifen und Zwicken bemerkbar machten. Spät am nächsten Morgen, erst eine Stunde nach dem ersten Hahnenschrei, wurde die Tür der Hütte von Anteus geöffnet und die Burschen hatten vor der Tür anzutreten. 10 Schubkarren standen dort in einer Reihe, jeder hatte sich hinter eine der Karren zu stellen und seine Eisenkugel hineinzulegen. Nachdem die Karren nun mit Proviant bepackt waren, hatten sie die Karren aufzunehmen und in Richtung Moor zu schieben. Hinter den neun Burschen lief Heinz mit den beiden Hunden, auch er schob eine Karre, die mit Töpfen und Pfannen vollbepackt war. Ganz zum Schluss marschierte Anteus Cirksena zusammen mit einem älteren Mann namens Temmo, der ihm bei der Arbeit im Moor helfen sollte. Während Anteus sich interessiert umsah (er war schon viele Jahre nicht mehr im Moor gewesen), wurden den Burschen beim Anblick dieser Einöde angst und bange. Kein Haus, kein Baum, vielleicht mal ein dürrer Strauch, ansonsten nur das Quaken der Frösche, und das mal ein Hase aufsprang oder ein Moorhuhn hochflog. Über den holperigen, schmalen Knüppeldamm ging es immer weiter, doch war Anteus kein Unmensch und ließ alle ½ Stunde eine kurze Rast einlegen. Der letzte Mut verließ die Burschen, als sie dann endlich das Moorlager erreichten, hier schien es ihnen nur Elend und Öde zu geben. Zumindest hatten die Hütten die letzte Zeit gut überstanden, und so reinigten die Burschen ihr neues Domizil, während Heinz Temmo und Anteus zur Hand gehen musste, die sich um ihre eigene Hütte kümmerten. Kaum war es einigermassen sauber, als die Kettenburschen sich wieder vor die Schubkarren stellen mussten, um an diesem Tag den Weg nach Moordorf noch einmal hin- und zurück zu machen, da noch etliches an Proviant und Ausrüstung in dem Dorf gelagert war. Begleitet wurden sie dabei von Anteus, der schon dafür sorgen wollte, dass ihm keiner der Burschen entkam. Heinz hingegen hatte sich um die Kochstelle zu kümmern und ein Essen für den Abend vorzubereiten. |