Titel: Jennas Weg, Teil 25 Beitrag von: Mandith am Juni 01, 2012, 12:42:34 pm Nervös trommelte Burt auf den Lenker des Taxis. Wo blieb der Scheißkerl nur? Seit Stunden saß Mr. Dooleys Leibwächter nun schon in seinem Wagen und wartete darauf, dass sich etwas tat. Nichts passierte. Zweimal war das Tor des Gefängniszaunes aufgegangen. Einmal für den Wagen der Wäscherei und einmal für einen Gefangenentransporter, der hineingefahren war.
Eine weitere Stunde rührte sich absolut nichts. Dann kam der Wäschereiwagen wieder heraus. Dreimal hatte Burts Boss schon nachgefragt, was los sei, und immer hatte Burt ihn vertrösten müssen. „Das kann doch nicht sein“, hatte Blake beim letzten Anruf geschimpft, „der Kerl muss schon lange raus sein. Normalerweise entlassen die ihre Gefangenen um die Mittagszeit, und jetzt ist es schon 17.00 Uhr. Da stimmt doch was nicht“. „Ich weiß auch nicht, was da los ist“, hatte Burt gesagt, „das ist hier das einzige Tor weit und breit. Wenn er rauskommt, dann nur hier. Aber bis jetzt ist er noch nicht aufgetaucht. Da bin ich mir ganz sicher. Haben wir auch wirklich den richtigen Termin erwischt?“. „Erster August“, hatte Blake bestätigt, „das ist ja wohl heute, oder?“. „Ja“, hatte Burt geantwortet, „das ist heute. Was soll ich machen?“. „Weiter warten“, hatte Mr. Dooley befohlen, „der Kerl muss heute noch rauskommen. Vielleicht kann er sich nicht von seinen Kumpels trennen. So was soll´s ja geben. Irgendwann werden sie ihn schon rausschmeißen“. „Ich melde mich, wenn´s soweit ist“, hatte Burt geantwortet und aufgelegt. Er wollte sich gerade eine Zigarette anzünden, als sich von der anderen Seite des Zaunes ein Beamter auf einem Fahrrad näherte. Die Wache öffnete das Tor, und der Mann fuhr hindurch. Schnell stieg Burt aus dem Wagen. „Hey, Mister“, rief er, „können Sie mal kurz anhalten?“. Der Beamte stoppte sein Fahrrad und sah den vermeintlichen Taxifahrer fragend an. „Was gibt es denn, Mister?“, fragte er, „fehlt Ihnen ein Fahrgast?“. „Allerdings“, sagte Burt, „ich sollte hier einen Ihrer, äh, Gäste abholen. Aber anscheinend will der nicht rauskommen“. „Haha“, lachte der Beamte, „da können Sie lange warten. Ich habe mich schon gewundert, was das Taxi hier heute will“. „Wieso denn das?“, fragte Burt und begann jetzt echt nervös zu werden, „wieso lange warten?“. „Na, weil heute Sonntag ist“, sagte der Beamte, „sonntags entlassen wir niemanden. Die zwei Typen, die heute dran waren, sind schon gestern freigelassen worden. Da sind Sie wohl ein bisschen spät dran“. „Scheiße“, schrie Burt und rannte zu seinem Taxi, während der Beamte kopfschüttelnd davonfuhr. „Argh“. Ein wildgewordener Bienenschwarm tobte in seinem Schädel. Ganz langsam und blinzelnd öffnete Harry Milfort die Augen, um sie gleich wieder zu verschließen. Zu grell stach das Licht der Neonlampe in seine Pupillen. Wo war er hier? Vorsichtig versuchte er es erneut, eine Hand schützend auf die Lider legend. „Shit“, stieß er aus. Wieso war das Licht an? Langsam gewöhnte sich Harry an die grelle Funzel und sah sich um. Was war das für ein verfluchtes Zimmer? Und diese alberne Blümchentapete, geschmacklos. Die Dinger waren doch schon weit vor seiner Inhaftierung aus der Mode gekommen. Harry erinnerte sich, so etwas das letzte Mal bei seinen Pflegeeltern gesehen zu haben. Vor Urzeiten. Die Bude sah total heruntergekommen aus, und auch das Bett in dem er lag, sah nicht gerade einladend aus. Normalerweise hätte sich Harry da niemals hineingelegt. Immerhin war er nicht zugedeckt. In voller Montur lag er auf der schmuddeligen Tagesdecke. Irgendwie war er wohl nicht dazu gekommen, sich seiner Kleidung zu entledigen und das Licht zu löschen. Mühsam quälte sich Harry hoch und ging zum Fenster. Er zog den fleckigen Vorhang beiseite und stellte fest, dass es draußen stockfinster war. Nur eine schwache Reklameleuchte spendete ein wenig Licht und beleuchtete eine abgeblätterte Fassade. „Hotel“ las Harry, wobei das o nicht zu erkennen war. Das war anscheinend kaputt. Genauso kaputt wie Harry sich fühlte. Sein Schädel brummte, und seine Pumpe hämmerte in der Brust wie ein Dampfhammer. Musste hoch hergegangen sein, an seinem ersten Tag in Freiheit. Jaja, man wurde nicht jünger, und sieben Jahre Abstinenz hatten die Verträglichkeit von Alkohol und Drogen mehr beeinträchtigt, als Harry es hatte wahrhaben wollen. Harry sah auf die Uhr. 23.15 Uhr. Später Abend. Wie, zum Teufel, war er hierhergekommen? Er erinnerte sich vage daran, mit den Weibern an der Bar gesessen zu haben. Der Whiskey war in Strömen geflossen, nachdem er die drei Nutten durchgeknallt hatte, und irgendwann war der Film gerissen. Immerhin, an das Wichtigste erinnerte sich Harry noch ganz gut. Der Taxifahrer hatte ihn zu einem Bordell in der Hafengegend gefahren, wo er sich erst mal einen genehmigt hatte, bevor er gleich mit drei von den Damen des Hauses nach oben gegangen war. Harry war in Höchstform gewesen und hatte es mit allen dreien getrieben. Erfolgreich! Was Wunder nach der langen Entbehrung. Zum Glück hatte man ihm die neue Kreditkarte, die er beantragt hatte, in den Knast geschickt, wo sie bis zu seiner gestrigen Entlassung bei seinen persönlichen Sachen verwahrt worden war. Mit den paar Talern, die der in der Tasche hatte, hätte er die Orgie wohl nicht bezahlen können. Jedenfalls war Harry danach mit den Weibern wieder hinunter an die Bar gegangen und hatte sich gehörig die Kante gegeben. Und nun saß er hier in dieser billigen Absteige und wusste nicht mehr, wie er hierhergekommen war. Und schlafen konnte er auch nicht mehr. Shit, dachte Harry, das kommt davon. Vielleicht hätte er es doch etwas langsamer angehen lassen sollen. Er schnappte sich sein Bündel und wankte hinaus aus der Bude. Die Rezeption war unten im Erdgeschoss, und Harry hämmerte auf die Klingel, nachdem er die morsche Treppe überwunden hatte. Fast augenblicklich erschien ein junger Mann mit fettigen Haaren und unrasiertem Gesicht hinter dem Tresen und sah Harry fragend an. „Kann ich hier was zum Essen kriegen?“, fragte Harry, der plötzlich einen Mordshunger verspürte. „Nee“, sagte der junge Mann, „da müssen Sie schon woanders hingehen. Sonntags macht die Küche um 18.00 Uhr dicht“. „Sonntags?“, fragte Harry verwundert und sah noch einmal auf seine Uhr, „Sie meinen Samstags“. „Nee, Mister“, sagte der junge Mann, „ich meine Sonntag. Und da wären wir auch schon beim Thema. Ich kriege noch zwanzig Dollar von Ihnen, für die zweite Nacht“. „Was…?“. Harry war sich nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte. „Sie haben sechzehn Stunden geschlafen, Mister“, sagte der junge Mann, „ich habe heute Nachmittag versucht, Sie zu wecken, aber Sie haben keinen Mucks von sich gegeben. Haben Sie schon Ihre Habe überprüft? Wenn Sie mich fragen, hat man Ihnen was in den Drink gemixt, um Ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen“. „Mach keinen Scheiß“, sagte Harry erschrocken und durchwühlte sofort seine Sachen. Es fehlte nichts, wie er erleichtert feststellte. Wie sehr er abgezockt worden war, würde er erst mit der Kreditkartenabrechnung zu wissen bekommen. „Verdammt“, sagte er, „einen ganzen Tag verpennt. Hier haben Sie den Zwanziger. Wo krieg ich denn jetzt noch was zu Futtern?“. „Gehen Sie von hier aus nach rechts die Straße hinauf“, erklärte der junge Mann bereitwillig, „ganz am Ende finden Sie Paddys Kneipe. Auf der linken Seite, gegenüber dem Bizarr-Shop. Da kriegen Sie rund um die Uhr etwas zu Essen“. „Okay, Junge“, sagte Harry, „dann will ich das mal versuchen“. „Nehmen Sie den Schlüssel mit“, sagte der junge Mann, „falls Sie noch weiterschlafen möchten. Das Zimmer ist ja jetzt noch für eine Nacht bezahlt“. „Wie Du meinst“, grummelte Harry und steckte den Schlüssel ein, „bis später“. Jenna war außer sich. Wie ein Tiger im Käfig rannte sie in ihrem Wohnzimmer auf und ab. Anna saß auf dem Sofa und fragte immer wieder, was denn los sei. „Das geht Dich gar nichts an“, keifte ihre Herrin, „und hör auf mit Deiner Fragerei, das geht mir auf die Nerven“. „Aber…“. „Halt den Mund“, fuhr Jenna sie an, „sonst verpasse ich Dir einen Knebel. Überhaupt, ich sollte…komm mit ins Schlafzimmer“. Verwundert hob Anna die Augenbrauen, wagte aber nicht zu widersprechen. Den ganzen Tag war die Herrin bester Stimmung gewesen. „Ich bin in freudiger Erwartung“, hatte sie gescherzt, als Anna nach dem Grund ihrer guten Laune gefragt hatte. Doch dann war ein Anruf gekommen, und die Laune der Herrin hatte sich schlagartig geändert. „Wie konnte das denn passieren?“, hatte sie ins Handy gebrüllt, und: „Scheiße, das ist ja eine Katastrophe, was machen wir denn jetzt?“. Dann war sie aus dem Zimmer gegangen, und Anna hatte den Rest des Gesprächs nicht mehr mitbekommen. Seit dem war Mistress Jenna nicht mehr dieselbe. Anna hatte sie noch nie so fluchen hören, und jetzt rannte die Herrin schon seit einer Stunde grübelnd auf und ab. „Hast Du nicht gehört?“, schimpfte sie, „ab ins Schlafzimmer mit Dir“. Unsicher stand Anna auf und folgte ihrer Herrin ins Schlafzimmer. Diese ging direkt auf den Käfig zu und öffnete ihn. „Los, rein mit Dir“, schrie sie Anna an, „ich habe genug von Deiner Fragerei. Ich werde Dir zeigen, was passiert, wenn man mir auf den Zeiger geht“. Völlig verschüchtert ging Anna auf die Knie und kroch auf allen Vieren in den engen Käfig. Sie musste die Beine streng anwinkeln, um hineinzupassen. „Hände und Füße in die Ecken“, befahl Jenna, nachdem sie die Tür des Käfigs verschlossen und mit zwei starken Vorhängeschlössern gesichert hatte. Anna wusste, was nun kam, und ihr wurde ganz anders. Eine qualvolle Tortur stand ihr bevor, und da schnappten auch schon die Handschellen zu, die an den äußersten Gitterstäben angebracht waren. Mit den Füßen verfuhr die Herrin genauso, und Anna musste nahezu völlig bewegungsunfähig in der Hocke verharren. „So, mein Vögelchen“, schnurrte Jenna und deckte den Käfig mit einem schweren schwarzen Tuch ab, „jetzt wirst Du wohl Ruhe geben“. Dann verließ sie ohne ein weiteres Wort das Schlafzimmer, schloss die Tür ab und ließ die arme Sklavin in ihrem dunklen Gefängnis zurück. Was war nur schiefgegangen? Immer wieder stellte sie sich die Frage. Hatte Blake nicht sorgfältig genug recherchiert? Oder sie selbst? Das hätte man doch durchaus herauskriegen können. Aber wie sollte man etwas herauskriegen, mit dem man gar nicht rechnete? Nein, Blake traf sicher keine Schuld. Wo Jenna doch selbst vollkommen überrascht gewesen war. Das dieser verflixte Tag auch ausgerechnet auf einen Sonntag fallen musste. Ausgerechnet dieser. Hatte ihr sprichwörtliches Glück sie etwa verlassen? Nein. Dass durfte nicht sein. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, dachte Jenna, dann würde es eben etwas länger dauern, bis sie das Schwein in die Fänge bekam. Aber bekommen würde sie ihn, egal, ob heute oder morgen. Irgendwann würde er sicher versuchen, Kontakt zu Joe aufzunehmen. Dann musste sie zur Stelle sein, und vielleicht gab es sogar noch eine andere Möglichkeit. Jenna beruhigte sich wieder etwas und begann, einen Plan B zu entwerfen, und damit sie ganz sicher sein konnte, auch noch einen Plan C. Harry ließ es sich schmecken. Es gab zwar keine großen Hauptgerichte mehr, aber die ausgezeichnete Pizza tat auch ihren Dienst. Mit großem Appetit verschlang Harry das Ding. Er glaubte, nie im Leben besser gegessen zu haben. Naja, nach der jahrelangen Dampfkost im Gefängnis kein Wunder. Genussvoll spülte er das letzte Stück mit einem frischgezapften Bier hinunter. Allmählich kehrten seine Lebensgeister zurück. Jetzt musste er nur noch irgendwie die Nacht rumkriegen, dann würde er sich um eine Wohnung kümmern und ein paar alte Kontakte auffrischen müssen. Dazu würde er ein Telefon gebrauchen. Sein altes Handy konnte er nicht mehr benutzen. Er hatte doch glatt die Pin-Nummer vergessen, nach der langen Zeit. Außerdem war sein Vertrag längst ausgelaufen. Was soll´s, dachte Harry, besorg ich mir morgen eben ein neues. Jetzt musste er erst mal einen guten Drink haben, und deshalb stand er von seinem Tisch auf und setzte sich auf einen freien Hocker am Tresen. „Einen doppelten Whiskey, bitte“, sagte er zu der jungen Blonden hinter dem Tresen. Sie hatte ein süßes Gesicht, aber für Harrys Geschmack etwas zu wenig Holz vor der Hütte. „Kommt sofort“, sagte sie freundlich, „hat Ihnen die Pizza geschmeckt?“. „Ich habe lange nicht mehr so gut gegessen“, sagte Harry ehrlich, „da, wo ich die letzte Zeit war, gab es so was nicht“. „Keine Pizza?“, fragte die Blonde und schob ihm den Drink rüber, „waren Sie im Dschungel?“ „So ungefähr“, lachte Harry und stürzte den Whiskey in einem Zug hinunter, „gleich noch einen, bitte“. „So einen Durst?“, fragte der große Mann, der auf dem Hocker neben Harry saß, „haben Sie etwa auch einen Scheißtag hinter sich?“. „Wie man´s nimmt“, meinte Harry, „eigentlich hatte ich heute überhaupt keinen Tag“. „Seien Sie froh“, sagte Burt und bestellte noch ein Bier, „ich hatte einen lausigen Tag“. „So?“, fragte Harry, „inwiefern denn?“. „Ich hab den ganzen Tag auf so ein fettes Arschloch gewartet“, sagte Burt, „der sollte heute aus dem Knast kommen“. „Ach ja?“, fragte Harry, plötzlich hellwach, „und das fette Arschloch ist nicht gekommen?“. „Nee“, sagte Burt genervt und nahm einen tiefen Zug von seinem frischen Bier, „den haben sie gestern schon rausgeschmissen. Ich heiße übrigens Burt, und wer sind Sie? Ich glaube nicht, dass ich Sie hier schon mal gesehen habe“. „Gut möglich“, sagte Harry, „ich bin neu in der Stadt. Peter Kent ist mein Name, Versicherungsvertreter“. „Jedem das Seine“, sagte Burt, „Hauptsache, Sie versuchen nicht, mir einen Vertrag aufzuschwatzen“. „Keine Sorge“, lachte Harry, „ich bin zur Zeit außer Dienst. Lady, noch einen Whiskey, bitte, und für den Herren hier noch ein Bier“. Mal sehen, ob er dem Mann nicht noch mehr entlocken konnte. Jenna begab sich wieder ins Schlafzimmer. Sie hatte gerade mit Joe telefoniert und ihm eröffnet, dass sie seinen Vater verpasst hatte und er möglicherweise doch noch bei ihm auftauchen könnte. Joe war darüber nicht gerade erfreut gewesen und hatte böse geflucht. „Keine Sorge“, hatte Jenna versucht, ihn zu beruhigen, „wir werden ihn finden, bevor er sich Dir nähern kann. Das verspreche ich Dir“. Wirklich beruhigt hatte Joe das aber nicht. Schließlich war das heute ja auch schon schiefgelaufen. Ihm stand eine unruhige Nacht bevor. Er glaubte nicht, dass er zu einem vernünftigen Schlaf kommen würde. Dazu gingen ihm viel zu viele Gedanken durch den Kopf. Jenna hingegen hatte sich wieder gefangen. Passiert war passiert. Das konnte man nun nicht mehr ändern. Sie ging zum Käfig, aus dem deutlich das Stöhnen der Sklavin zu vernehmen war, und entfernte das schwarze Tuch. Anna litt erheblich unter der restriktiven Haltung, die sie zwangsweise in dem engen Käfig hatte einbehalten müssen, und sie war froh, das Gesicht der Göttin zu sehen, die sich nun vor sie hinkniete. „Geht´s noch?“, fragte Jenna scheinheilig, „ich sollte Dich die ganze Nacht so da drinnen lassen, aber dann wärest Du morgen wohl nicht fähig, zur Arbeit zu gehen. Darum werde ich heute noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen und Deine Fesseln lösen“. Mit diesen Worten schloss die Herrin Handschellen und Fußfesseln auf. Aufatmend nahm Anna sofort eine etwas bequemere Position ein, soweit das möglich war. „Das heißt aber nicht, dass ich Dich rauslasse“, sagte die Herrin lächelnd, „immerhin darfst Du heute Nacht bei Deiner Göttin schlafen. Und das ist doch auch was, oder?“ „Ja, Herrin“, sagte Anna, „danke, Herrin“. „Gute Nacht, mein Täubchen“, sagte Jenna und deckte den Käfig wieder ab. Erschöpft legte sich Harry Milfort auf das Bett. Der neuerliche Alkoholkonsum hatte ihn doch wieder müde werden lassen. Die Klamotten behielt er erneut an. Diesmal aber ganz bewusst. Die Geheimnisse dieses Bettes wollte er lieber nicht allzu genau erkunden. Soso, dachte er, es suchte ihn also jemand. Wer das war, hatte Harry leider nicht herausfinden können. Der große Mann am Tresen war plötzlich recht einsilbig geworden, als Harry nachzuhaken versucht hatte. Immerhin hatte er ihm noch entlocken können, dass er nach einem dicklichen, aufgedunsenen Mann Ausschau gehalten hatte. Wie schön, dass der Fitnessbereich im Knast so gut ausgestattet war. Harry sah an sich hinab. Von Dicklichkeit keine Spur. Er war schlank wie eine junge Tanne und in allerbester Form. Fit wie ein Turnschuh, sozusagen. Der große Kerl hatte nicht im Entferntesten gemerkt, mit wem er dort am Tresen gesessen hatte. Damit war Harry klar im Vorteil. Wer immer auf der Suche nach ihm war, hatte offensichtlich keinen Schimmer, wie er heute aussah. Wer konnte das sein? Und was wollte der von ihm? Harry hatte sich in seinem Leben ja eine Menge Feinde gemacht, so rigoros wie er bei seinen Geschäften vorgegangen war, aber das war lange her. Wer konnte heute etwas von ihm wollen? Nach so langer Zeit? Höchstens die Angehörigen seiner Opfer von damals, aber da gab es, seines Wissens, nur eine Tochter und die Schwester der toten Mrs. Carson. Die Tochter schien nicht in Frage zu kommen. Die hatte sich noch nicht einmal um den Prozess gekümmert, und auch als Nebenklägerin war sie nicht aufgetreten. Ungewöhnlich in einem solchen Fall, kam aber schon mal vor. Die Schwester? Die hatte doch letztlich bekommen, was sie wollte. Harry hatte seit dem Prozess nie wieder von ihr gehört. Es hatte auch keine Proteste wegen des Deals mit der Staatsanwältin gegeben. Nein, es musste noch jemand anderen geben. Der Junge etwa? Sein angeblicher Sohn? Hatte der es sich anders überlegt? Vielleicht suchte der Harry ja nur, um mit ihm zu reden, und er musste sich gar keine Sorgen machen. Dagegen stand allerdings die Tatsache, dass der Junge auf keinen einzigen Annäherungsversuch reagiert hatte. Allein in den letzten drei Monaten vor seiner Entlassung hatte Harry ihm noch fünfmal geschrieben. Ohne Erfolg. Morgen würde Harry sich mal die Telefonbücher durchsehen. Es musste doch bestimmt eine Nummer zu der Adresse geben. Wenn der Junge denn noch da wohnte. Und das tat Joe. Er wohnte natürlich immer noch auf der Farm. Eine Zeit lang hatte er mit dem Gedanken gespielt, in die Stadt zu ziehen. Er hatte eine heftige Liaison mit der rattenscharfen Belle angefangen, und anfangs war das auch sehr aufregend gewesen. Doch als Joe ihr eröffnet hatte, dass er sich in sie verliebt hatte und gerne mit ihr zusammenleben wollte, war es vorbei gewesen mit der Herrlichkeit. Das war nun gar nicht Belles Welt gewesen. „Glaubst Du, Du bist der einzige süße Junge auf der Welt?“, hatte sie gefragt, „Wie naiv bist Du eigentlich? Es gibt noch jede Menge andere von Deiner Sorte, da werde ich doch jetzt nicht anfangen, monogam zu werden. Du bist ein nettes Spielzeug, nicht mehr und nicht weniger“. Das hatte Joe tief getroffen, und er hatte lange gebraucht, darüber hinwegzukommen. Jedenfalls hatte er die Beziehung daraufhin abgebrochen und den Gedanken an einen Umzug endgültig fallen lassen. Eine andere hatte es seitdem nicht gegeben. Wer würde sich auch schon auf die abgelegene Farm verirren, mal abgesehen von den jungen Feriengästen? Und bei seinen bizarren Neigungen? Da müsste schon ein ziemlich gewaltiger Zufall zu Hilfe kommen. Und daran glaubte Joe nicht. Seine heimliche Liebe war natürlich immer noch Jenna, doch die war absolut außer Reichweite. Die war eine Nummer zu groß für ihn und liebte außerdem nur ihre Sklavin Anna. Da hätten sich wahrscheinlich noch ganz andere Kaliber die Zähne dran ausgebissen. Wie mochte sie das wohl gemeint haben, als sie gesagt hatte, sie werde dafür sorgen, dass sein Vater ihn nicht würde belästigen können? Joe hatte keine Ahnung, und doch hatte er ihr vertraut. Er wusste sehr gut, dass Jenna so ziemlich alles durchsetzen konnte, was sie sich in den Kopf setzte. Doch dieses Mal musste irgendetwas schiefgelaufen sein. Was immer sie vorgehabt hatte, es war anders gekommen als erwartet. Und nun lief der Kerl irgendwo dort draußen herum, und keiner wusste wo. Und dass er nach Joe suchen würde, war bei der Flut von Briefen, die der Scheißkerl geschrieben hatte, als ziemlich sicher anzunehmen. Auf jeden Fall hatte Jenna Joe gebeten, sie sofort zu informieren, wenn er etwas hören sollte. Das würde er auch tun, aber lieber wäre es ihm, nichts von seinem Vater zu hören. Der Mann war eine einzige Katastrophe, und so etwas hatte Joe gerade noch gefehlt. Jenna erwachte mitten in der Nacht, aufgrund eines dringenden Bedürfnisses. Im Halbschlaf nahm sie das Stöhnen ihrer Sklavin wahr. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie mal wieder zu weit gegangen war. In ihrem Ärger über die verpatzte Aktion hatte sie überreagiert und ihren Frust auf Anna abgewälzt. Die musste, auch ohne Fesseln, Höllenqualen in dem engen Käfig leiden. Dabei musste die Ärmste am Morgen zur Arbeit. Schnell verrichtete Jenna ihr Geschäft, um sich danach schleunigst um ihre Sklavin zu kümmern. Mit einem Ruck riss sie das Tuch von dem Käfig und öffnete die Tür. „Raus da“, sagte sie, „Schluss mit dem Vergnügen. Du musst nachher zur Arbeit, und wir wollen doch nicht, dass Christine denkt, dass wir uns hier die Nacht um die Ohren schlagen“. „Danke, Herrin“, sagte Anna, froh, die Beine ausstrecken zu können, „das war ganz und gar kein Vergnügen. Mir tun alle Knochen weh“. „Dann hat das ja wenigstens etwas bewirkt“, sagte Jenna und half Anna auf die Beine, „Abmarsch ins Bett mit Dir. Es sind noch vier Stunden bis zum Aufstehen“. „Ins Bett, Herrin?“, fragte Anna unsicher, „in welches denn?“. „Na, wie viele siehst Du denn hier?“, erwiderte die Herrin, „in meines natürlich. Ich werde dir ein wenig die strapazierten Muskeln massieren müssen. Das hat man nun davon. Da gönnt man seiner Sklavin mal ein paar Stunden etwas, und dann hat man auch noch Arbeit davon. Los, leg Dich auf den Bauch“. Noch immer leicht angeschlagen, wankte Anna zu dem Bett und legte sich bäuchlings hinein. Sofort war die Herrin über ihr und begann mit einer wohltuenden Massage. Herzhaft griff sie der Sklavin in die schmerzenden Muskeln bis sich die Verspannung etwas löste. Anna stöhnte erleichtert auf und genoss die Aktivitäten ihrer Herrin, und sie bemerkte, zu ihrer großen Freude, dass diese immer langsamer und zärtlicher wurden, bis sie sich in liebevolles Streicheln verwandelten. Genussvoll gab sie sich den Händen der Göttin hin, und die Qual der letzten Stunden fiel von ihr ab wie eine Last, die man den Berg hinaufgetragen und endlich abgelegt hatte. Sehnsüchtig wartete Anna auf die Anweisung, sich umzudrehen. Und die Göttin enttäuschte sie nicht. „Leg Dich auf den Rücken, mein kleiner Schatz“, sagte sie, „Du brauchst etwas Entspannung“. Oh ja, dachte Anna, die brauchte sie wirklich. Sie brauchte sie wie nichts anderes auf der Welt, und sie sollte sie bekommen wie niemals zuvor. Ganz langsam führte die Göttin den Schlüssel in das Schloss des Keuschheitsgürtels, und der kleine Arnold drängte ans Licht. „Nicht so schnell“, flüsterte die Göttin und hielt die Klappe noch etwas fest, „zuerst musst Du mir ein paar Fragen beantworten“. „Was immer Sie wollen“, sagte Anna mit sehnsüchtigem Blick. „Wie sehr liebst Du Deine Herrin?“. Was war denn das für eine Frage? Das wusste sie doch genau. Nichts auf der Welt liebte Anna mehr als ihre Herrin. Sie würde ihr Leben für sie hergeben. „Unendlich, Herrin“, sagte Anna, „mit Haut und Haaren. Das wissen Sie doch“. Jenna löste die Klappe und der kleine Arnold richtete sich zu voller Größe auf. Ganz sanft, mit nur einem Finger streichelte ihn die Herrin. „Wirst Du mich noch lieben, wenn ich etwas sehr Böses tue?“, fragte sie. „Aber Herrin“, protestierte Anna, „Sie können doch gar nichts Böses tun. Sie sind der liebste Mensch der ganzen Welt“. Jenna nahm den Daumen zu Hilfe. „Beantworte die Frage“, sagte sie. „Natürlich, Herrin“, beeilte sich Anna zu sagen, „immer und ewig. Ganz egal, was passiert“. Ganz leicht verstärkte Jenna den Druck. „Auch wenn ich nicht mehr da bin?“ „Wenn Sie…? Aahh…im…immer, Herrin, immer“. Jenna fügte einen Finger hinzu. Fast unmerklich erhöhte sie das Tempo. Anna wand sich unter den Liebkosungen. „Ich meine, wenn ich unerreichbar für Dich bin“, sagte die Herrin, „wird Deine Liebe dann noch bei mir sein?“. Unerreichbar? Was wollte sie damit sagen? Würde sie fortgehen? Wohin? „Meine Liebe wird immer bei Ihnen sein“, sagte Anna, den Tränen nah, „ooohh, Herrin…ah…wo…wo Sie auch sind…mhmm“. Außer sich vor Liebe und Verlangen schlang sie die Arme um den Hals der Göttin, die nun die ganze Hand benutzte. „Ich danke Dir für Deine Liebe“, flüsterte Jenna, „sie bedeutet mir mehr als Du ahnst“. Sanft löste sie sich aus der Umarmung, beugte sich zu Anna hinab und bedeckte den Hals der Sklavin mit zarten Küssen, dann ihre festen kleinen Brüste, den Bauch, ganz langsam immer weiter hinab, bis ihre Lippen den kleinen Arnold fanden. Weich und warm umschlossen sie ihn, spielten mit ihm, trieben ihn, nahmen ihn in sich auf, führten ihn an das Wasser, ließen ihn trinken von der Quelle der Liebe bis sein Durst gestillt war von den köstlichen Tropfen des Glücks. Ein tiefer Seufzer der Erfüllung entfuhr der Sklavin, als der letzte Tropfen ausgetrunken war. Nie hatte sie etwas Schöneres erlebt, und Anna wusste, dass nichts sie von ihrer Göttin würde trennen können. Was auch immer geschehen würde. „Junges, aufstrebendes Maklerbüro sucht erfahrenen Mitarbeiter für den Außendienst“. Hm, dachte Harry, das wäre doch was, um wieder Fuß zu fassen. Andererseits, einen Sechzigjährigen konnten die wohl nicht meinen. Da brauchte er gar nicht erst anzurufen. Missmutig legte er die Zeitung beiseite. Noch hatte er genügend Rücklagen, um sich etwas anderes einfallen zu lassen. Mit einer vorläufigen Wohnung hatte es überraschend schnell geklappt. Harry war dem Rat des Direktors gefolgt und hatte die Leute auf seiner Liste aufgesucht. Das heißt, eigentlich nur einen. Denn schon der erste, ein Bewährungshelfer namens Court Jester hatte ihm sofort helfen können. Der Mann hatte eine ganze Reihe kleiner möblierter Wohnungen parat, von denen er Harry zwei empfohlen hatte. Er war direkt mit Harry dahin gefahren, und Harry hatte sich gleich für die erste entschieden. Es war ihm vollkommen egal, wie die andere Wohnung aussah. Hauptsache, er hatte eine Unterkunft. „Wenn Sie wollen, können Sie auch gleich noch einen Job haben“, sagte Court Jester, „ist allerdings Knochenarbeit und, gelinde gesagt, beschissen bezahlt. Aber besser als nichts“. „Nee, danke“, sagte Harry, „ich werde lieber versuchen, in meinem angestammten Metier weiterzuarbeiten“. „Und wie kommen Sie bis dahin über die Runden?“, wollte Court wissen, „wenn Sie die Miete nicht bezahlen können, sind Sie schneller wieder draußen als Sie denken können. Das ist Bedingung für unser Projekt. Wir wollen, dass die Ex-Knackis ein geregeltes Leben aufnehmen“. „Keine Sorge“, sagte Harry, „ich bin nicht ganz arm. Von mir werden Sie die Miete pünktlich bekommen“. „Na gut“, sagte Court Jester, „dann werde ich mich mal um den Papierkram kümmern. Kommen sie morgen wieder in mein Büro. Haben Sie einen Wagen?“. „Hätte ich gerne“, sagte Harry, „aber das werde ich mir wohl sparen können. Unser lieber Staat hat ja etwas dagegen, dass ich wieder fahren darf“. „Naja“, sagte Court, „bei dem Sachverhalt nicht verwunderlich. Falls Sie einen fahrbaren Untersatz gebrauchen, unten im Hof gibt es einen Stall. Da stehen Fahrräder drin, die uns das Fundbüro zur Verfügung gestellt hat. Sind nie abgeholt worden. Suchen Sie sich eins aus, wenn Sie wollen“. „Hm“, meinte Harry, „ich könnte möglicherweise tatsächlich eins gebrauchen. Ich werde mir die Dinger nachher mal ansehen“. „Schön“, sagte Court, „dann also bis morgen“. „Okay“, sagte Harry, „ich werde da sein“. Ein Fahrrad, dachte Harry verächtlich, wie tief bist Du gesunken? Allerdings, für eine Fahrt aufs Land wäre das vielleicht gar nicht so ungeeignet. Am Samstagmorgen trafen die jungen Leute fürs letzte Sommerferienlager auf der Farm ein. Über zwanzig waren es diesmal, und es mussten sich jeweils zwei ein Zimmer teilen. Lucy hatte alle Hände voll zu tun, sie alle zu begrüßen und über das Gelände und durch die Gebäude zu führen, während Joe fleißig Koffer nach oben schleppte. Nur eine Stunde später schwärmten die jungen Menschen fröhlich aus, um das Areal zu erkunden, das für die nächsten zwei Wochen ihr Domizil sein sollte. Wie immer bei solchen Ferienlagern fanden sich schnell einige Grüppchen zusammen, entweder weil man sich kannte, oder weil man sich auf Anhieb sympathisch war. Eines dieser Grüppchen, drei Jungen und ein Mädel, kam Harrys Standort gefährlich nahe. Mit all den jungen Leuten hatte er nicht gerechnet, als er sich frühmorgens auf den Weg gemacht hatte. Mit den Vögeln war er aufgestanden, hatte sich in sein neu erworbenes Radler-Outfit gezwängt und das alte Rennrad aus dem Stall geholt, das er in den letzten Tagen in mühevoller Kleinarbeit aufgemöbelt hatte. Richtig schick war es geworden, und es lief wie geschmiert. Harry hatte sich über sich selbst gewundert. Anscheinend besaß er versteckte Talente, von denen er bisher nichts geahnt hatte. Das Rad hatte er jedenfalls bestens in Schuss bekommen, und nach Absprache mit Court Jester war es in seinen Besitz übergegangen. Kurz nach Sonnenaufgang war er losgefahren, nachdem er sich den Rucksack mit ausreichender Verpflegung umgehängt hatte. Sogar Flickzeug für den Notfall hatte er eingepackt. Bei strahlendem Sonnenschein hatte Harry die Stadtgrenze passiert und die südöstliche Abzweigung genommen, die von der Küstenstraße hinaus aufs Land führte. Sein Ziel lag nicht eben um die Ecke. Ein paar Stunden Fahrt hatte er schon in Kauf nehmen müssen. Als er die Hügel überwunden und die ersten kleineren Wäldchen erreicht hatte, war es Zeit für eine Pause gewesen, und Harry hatte sein Rad an einer Bank am Waldrand abgestellt, um sein Frühstück zu sich zu nehmen. Da war ihm dann der plötzlich sehr rege eintretende Verkehr aufgefallen. Kurz nacheinander waren mehrere Wagen die gottverlassene Straße in südlicher Richtung entlanggefahren, und als Harry nach seiner Mahlzeit weitergefahren war, waren dieselben Wagen ihm wieder entgegengekommen. Wer fährt denn in dieser einsamen Gegend so kurz nacheinander hin und her, hatte Harry gedacht. Ihm war vorher nicht ein einziges Fahrzeug begegnet gewesen, mal abgesehen von dem Traktor auf einem Feld kurz hinter der Abzweigung. Kurze Zeit später hatte Harry die letzte Steigung gemeistert und freien Blick auf das Tal gehabt, in dem die Farm lag. Er war noch einmal abgestiegen, hatte einen Blick auf die Karte geworfen und den Waldrand abgesucht, bis er den zur Linken liegenden Feldweg entdeckt hatte. Als er die Straße hatte überqueren wollen, war ein weiterer Wagen aufgetaucht, den er hatte passieren lassen müssen, ehe er dann in den gegenüberliegenden Feldweg eingebogen war. Zwei junge Frauen hatten darin gesessen und dem einsamen Radrennfahrer freundlich zugewinkt. Harry hatte leicht den Arm gehoben und zurückgegrüßt. Wenige Minuten später hatte er ein passendes Versteck für sein Fahrrad gefunden, es ins dichte Unterholz geschoben und mit dem starken Schloss an einen Baum geschlossen. „Ich bin schon ewig nicht mehr mit einem Rad gefahren“, hatte Anna zu Jenna gesagt, als sie dem sportlichen Mann zugewinkt hatten. „Ich auch nicht“, hatte Jenna erwidert, „aber auf der Farm gibt es genug davon. Wenn Du willst, können wie ja mal eine kleine Tour unternehmen. Hier gibt es schöne Wege zum Radfahren“. „Wenn wir dazu kommen“, hatte Anna gemeint, „wenn ich Sie recht verstanden habe, werde ich ja eine Menge Arbeit haben als Hausmädchen“. „Da hast Du auch wieder Recht“, hatte Jenna ihr zugestimmt, „und ich werde wohl auch genug um die Ohren haben, wenn ich mich mit Joe um die jungen Leute kümmere“. Harry war derweil quer durch das Waldstück geschlichen und hatte sich an dem der Farm zugewandten Ende einen relativ leicht zu besteigenden Baum mit dichter Krone ausgesucht, den er hinaufgeklettert war, um das Geschehen auf dem Gelände zu beobachten. Nie im Leben wäre er früher in der Lage gewesen, einen solchen Baum zu besteigen, doch so sportlich wie er heute war, hatte es kein Problem gegeben, und nun saß er auf einem dicken Ast und sah zwischen den Blättern hindurch in sein Fernglas, als plötzlich die vier jungen Menschen auf seinen Baum zukamen. Schnell zog Harry die Beine ein und drückte sich näher an den dicken Stamm. Wenn die jungen Leute in den Wald liefen, würden sie hinter ihm sein. Das war gar nicht gut. Doch seine Sorge war unbegründet. Die Kids liefen am Waldrand entlang gen Osten, wo auf einer Koppel die Pferde weideten. Puh, das war noch einmal gutgegangen. Entdeckt zu werden, ehe er überhaupt etwas zu sehen bekam, wäre gar nicht gut gewesen. Wer konnte auch damit rechnen, dass ausgerechnet heute eine Meute ferienfreudiger Kids hier auflaufen würde? Andererseits, was hatte Harry erwartet auf einer Ferienfarm? Gähnende Leere? Harry sah wieder durch seinen Feldstecher. Auf der Veranda vor dem Haupthaus herrschte reges Treiben. Er erkannte eine kleine Gruppe junger Leute, die sich angeregt unterhielten und offensichtlich bester Laune waren. Zwei Frauen standen bei ihnen. Beide anscheinend sehr hübsch anzuschauen, das fiel Harry sofort auf. Die blonde Frau mit den hohen Reitstiefeln und der weißen Bluse war sogar eine echte Schönheit, da gab es nichts zu meckern, aber auch die Dunkelhaarige, offensichtlich das Hausmädchen, nach ihrer Kleidung zu urteilen, war ausgesprochen attraktiv. Sehr attraktiv für ein Hausmädchen. Die Blonde stieg gerade in ihr Auto, um es an anderer Stelle zu parken, während das Hausmädchen sich auf die Bank neben der Eingangstür setzte und den jungen Leuten zuhörte. Harry blieb fast das Herz stehen, als der Junge aus der Tür trat. Da war er. Unverkennbar, auch wenn der Junge inzwischen ein gereifter Mann war und Harry ihn nur ein einziges Mal gesehen hatte. Der junge Mann hatte eine kräftige Figur und sah blendend aus, was ihm den ein oder anderen bewundernden Blick der Mädels aus der Gruppe der Jugendlichen einbrachte. Er setzte sich zu dem Hausmädchen auf die Bank. Sie machten einen vertrauten Eindruck, und Harry fragte sich, ob sie wohl was miteinander hatten. Kurz darauf kam die blonde Schönheit zu Fuß zurück und setzte sich ebenfalls auf die Bank. Der gute Joe konnte sich glücklich schätzen, dachte Harry, zwischen zwei so schönen Frauen. Er selbst würde sich jedenfalls nicht zweimal bitten lassen. Erneut kam jemand aus dem Haus. Eine schon etwas ältere Dame von ebenfalls außergewöhnlicher Attraktivität und sehr autoritärer Ausstrahlung…Moment mal…die kannte Harry doch irgendwo her. Er drehte an den Einstellrädchen seines Fernglases, um sie noch schärfer ins Bild zu bekommen. Das war doch…konnte das sein? Natürlich war sie das. Die Schwester der toten Mrs. Carson, die Nebenklägerin. Was machte die hier? Ihrem Gebaren nach war sie hier anscheinend die Chefin, denn sie erteilte offensichtlich ein paar Anweisungen, worauf die Szene in Bewegung geriet. Harry kratzte sich am Kopf. Hatte er irgendetwas übersehen? Gehörte ihr die Farm? Wohnte der Junge bei ihr? Seine Mutter war das nicht. Die sah anders aus, wenn die Geschichte des Jungen denn wahr war. Was, zum Teufel, hatten die miteinander zu tun? Harry hatte offensichtlich nicht sorgfältig genug recherchiert, sonst hätte ihm das doch auffallen müssen. Er nahm das Fernglas von den Augen und kramte aus seinem Rucksack den Prospekt hervor, den er sich in der Stadt besorgt hatte, nachdem er herausgefunden hatte, dass die Adresse zu einem Ferienhof gehörte. Diesmal sah er ihn sich genauer an. „Farm of pleasure“ stand dort zu lesen. Ein paar Bilder von der Farm und der umliegenden Landschaft, sowie von jungen Leuten auf Pferden. Ganz unten auf der Rückseite fand Harry den Satz, dem er bisher keine Beachtung geschenkt hatte: „Wir freuen uns auf Ihren Besuch. Lucy Johannsen und Joe Weller“. LUCY JOHANNSEN! Dass ihm das nicht aufgefallen war. Das gab´s doch nicht! Harrys vermeintlicher Sohn lebte bei der Schwester seines Opfers. Unglaublich! Was für eine Konstellation. Dann wusste er also über alles Bescheid. Verdammt, das machte die ganze Sache komplizierter, als es ohnehin schon war. Der Frau wollte Harry lieber nicht über den Weg laufen. Kein Wunder, dass Joe nichts mit ihm zu tun haben wollte. Die Alte hatte bestimmt erheblichen Einfluss auf ihn. Das würde wahrscheinlich in eine Katastrophe ausarten, wenn Harry sich offen an den Jungen wenden würde. Er musste es irgendwie hinkriegen, ihn alleine zu überraschen. Das würde Geduld gebrauchen. Harry sah wieder durch das Glas. Die Veranda war jetzt leer. Die Johannsen und die blonde Schönheit führten die Kids zu den Ställen. Joe und das Hausmädchen waren im Haus verschwunden. Harry blieb nichts übrig, als zu warten. Er holte eine Flasche Mineralwasser aus dem Rucksack und nahm erst mal einen kräftigen Schluck. „Und Du glaubst, dass er hier auftaucht?“, fragte Lucy, nachdem die jungen Leute die Stallungen wieder verlassen und sich zerstreut hatten. Jenna nickte. „Ganz sicher“, sagte sie, „früher oder später wird er den Kontakt zu Joe suchen. Ich hoffe, dass ich ihn dann zu sehen bekomme“. „Was interessiert Dich das denn eigentlich noch? Du hast damals ja auch kaum Interesse gezeigt“, sagte Lucy kopfschüttelnd, „Du wirst doch keine Dummheiten vorhaben? Ich erinnere mich da an ein paar seltsame Bemerkungen von Dir an jenem Abend in der Villa“. „Ich will ihm nur ein paar Fragen stellen“, sagte Jenna beschwichtigend, „und ich möchte wissen, wie er heute aussieht. Anscheinend hat den Kerl ja keiner zu Gesicht bekommen, seit er entlassen wurde. Und das kommt mir merkwürdig vor“. „Was ist daran merkwürdig?“, fragte Lucy, „er wird sich aus dieser Gegend verpisst haben. Vielleicht ist er in sein altes Zuhause zurück“. „Das kann er gar nicht“, sagte Jenna, „da wohnt längst jemand anderer. Oder glaubst Du, die Vermieterin hätte seine Wohnung sieben Jahre lang für ihn freigehalten?“. „Wohl kaum“, gab Lucy zu, „was wohl mit seinem ganzen Kram passiert ist? Er muss doch einen kompletten Hausstand besessen haben“. „Alles verkauft“, sagte Jenna, „um ausstehende Mieten und Unkosten zu decken“. „Woher weißt Du das denn?“, fragte Lucy. „Dreimal darfst Du raten“, sagte Jenna mit einem fiesen Lächeln, „was glaubst Du, wer das gekauft hat?“. „Du bist ein kleiner Teufel“, sagte Lucy, „ein ganz gemeiner kleiner Teufel. Dich möchte ich nicht zum Feind haben. Ich müsste ja ständig damit rechnen, Dich im Genick zu haben“. „Da hast Du Recht“, sagte Jenna zustimmend, „wenn ich mir etwas in den Kopf setze, bleibe ich am Ball, bis ich mein Ziel erreicht habe. Und deshalb bin ich auch hier. Leider erst mal nur übers Wochenende“. „Also ich könnte auf eine Begegnung mit dem Lump gerne verzichten“, sagte Lucy, „und das solltest Du auch“. „Vielleicht“, sagte ihre Tochter, „aber ich glaube nicht, dass Harry Milfort auf eine Begegnung verzichtet. Zumindest nicht was Joe angeht. Hat Joe Dir etwa nichts von den Briefen erzählt?“. „Was für Briefe?“, fragte Lucy verblüfft. „Dacht ich es mir doch“, sagte Jenna, „Du hast keinen blassen Schimmer“. „Oh, mein Gott“, sagte Lucy, in Erkenntnis ihrer Naivität, „deshalb war er in letzter Zeit manchmal so verschlossen. Warum hat er sich mir denn nicht anvertraut? Du weißt ja schließlich auch davon“. Jenna schüttelte den Kopf. „Er hätte sich auch mir nicht anvertraut“, sagte sie, „wenn ich es ihm nicht auf den Kopf zugesagt hätte“. „Das fehlte noch“, sagte Lucy, „dass der Kerl hier noch den Frieden des Ferienlagers stört“. „So dumm wird er nicht sein“, behauptete Jenna, „ich denke, er wird versuchen, Joe alleine zu treffen“. Langsam wurde es dunkel. Harry tat der Arsch weh von dem Sitzen auf dem Ast. Ein paarmal war er schon hinabgestiegen, um sich die Beine zu vertreten. Nun stieg er gar nicht erst mehr hinauf. Auf der Farm wurde es allmählich ruhiger. Am Nachmittag war die ganze Rasselbande ausgeritten. Die Meute war an seinem Baum vorbei zur Koppel gegangen, wobei Harry seinen Jungen und das blonde Prachtweib einen Moment lang aus der Nähe hatte sehen können. Die Dame war wirklich eine Augenweide, da gab es kein Vertun. So etwas hätte er gerne mal unter sich gehabt, wobei ihm eingefallen war, dass er seit seinem ersten Tag in Freiheit keinen Sex mehr gehabt hatte. Er musste dringend mal wieder los, wenn die Sache hier ausgestanden war. Aber garantiert nicht wieder in denselben Puff. Da hatte man ihn gehörig abgezockt, wie er unschwer an der Kreditkartenabrechnung hatte erkennen können. Diese elenden Misthaken! Mit Joe und der Blonden an der Spitze war die Feriengesellschaft zu den Pferden gegangen, hatte ihnen nach Joes Anweisungen Geschirr angelegt, und waren dann zu ihrem ersten Ausritt aufgebrochen, nachdem es anfangs Streit bei der Auswahl der Tiere gegeben hatte, den der Junge aber schnell hatte schlichten können, in dem er die Pferde nach seinen Kriterien zugeteilt hatte. Letztlich waren wohl alle zufrieden gewesen. Jedenfalls hatten alle herzlich gelacht, als sie am frühen Abend wieder zurück zur Farm gegangen waren. Nun saß die ganze Meute schon seit einiger Zeit am Lagerfeuer, auch die Chefin und das Hausmädchen. Anscheinend war das Haus leer. Im Schutz der Dunkelheit schlich sich Harry in westlicher Richtung am Waldrand entlang, bis er zur Eingangspforte zum Hof kam. Mit einem sportlichen Satz überwand er den nicht allzu hohen Zaun und pirschte auf das Haus zu. Das Lagerfeuer war auf der südöstlichen Seite des Haupthauses, und Harry gelangte ungesehen an die nördliche Wand des großen Gebäudes. Vorsichte blickte er um die Ecke, wo er die beleuchtete Veranda erkennen konnte. Am liebsten wäre er gleich hinübergeschlichen und hineingeschlüpft, doch das war zu riskant. Die Veranda und somit der Haupteingang war vom Lagerfeuer aus zu gut einsehbar und die Gefahr der Entdeckung viel zu groß. Es musste eine andere Möglichkeit geben. Harry begab sich zur westlichen Seite des Hauses, und tatsächlich, hier gab es eine weitere Tür. Vorsichtig prüfte er die Klinke. So ein Glück, die Tür war nicht verschlossen. Harry öffnete sie einen Spalt weit und erkannte, dass sich dahinter der große Flur befand. Gegenüber lag der Haupteingang. Leider war der Flur hell erleuchtet, was immerhin den Vorteil hatte, dass Harry sich ein etwaiges Bild von der Architektur machen konnte. Der Flur hatte mehrere Türen, die in die verschiedenen Räumlichkeiten führten. Links, auf der anderen Seite, gleich neben dem Haupteingang, führte eine Treppe nach oben in den ersten Stock. Direkt gegenüber war offensichtlich die Küche. Die Tür stand weit offen, und Harry glaubte, trotz des etwas ungünstigen Winkels, eine Art Anrichte zu erkennen. Plötzlich tauchte im Haupteingang das Hausmädchen auf, und Harry schaffte es nicht mehr, die Hintertür rechtzeitig zu schließen. Schnell entfernte er sich von der Hauswand und versteckte sich hinter einem alten Karren, der dort vor sich hin gammelte. Von hier aus konnte er immer noch ein bisschen durch den Spalt sehen, und es entging ihm nicht, dass das Hausmädchen mit Getränken bepackt wieder hinausging. Sie hatte die offene Tür gar nicht bemerkt. Vom Lagerfeuer her erklang jetzt Gitarrenmusik und Gesang. Die Leute waren ganz offensichtlich in bester Stimmung. Harry wagte einen neuen Versuch. Wieder schlich er zur Hintertür, und diesmal fand er, was er suchte. Gleich links von ihm gab es eine Holztür, die gänzlich anders war als die anderen. Das musste die Kellertür sein. Harry wagte es. Er schlüpfte in den Flur und fand die Tür unverschlossen. Wie ein Schatten huschte er hindurch und zog sie sogleich wieder zu. Einen Moment lauschte er noch. Dann wandte er sich nach unten und versuchte, sich in der Dunkelheit zu orientieren, was ihm nicht gelang. Harry kramte mal wieder in seinem Rucksack herum und holte die kleine Stabtaschenlampe heraus, die er in weiser Voraussicht eingesteckt hatte. Ja, er hatte an alles gedacht. Glaubte er zumindest. Was er nicht wissen konnte, war, dass dieser Keller ein Geheimnis verbarg. Lautlos schlich Harry die Treppe hinab. |